Liebe zum Mitmenschen

Liebe ist der Zug zum Göttlichen im Mitmenschen

Unter allen Werken des Schöpfers steht obenan der Mensch. Der Mensch ist nicht nur gottgeschaffen, er ist gottentstammt. Seine Mitmenschen lieben heisst: sich mächtig hingezogen fühlen zu dem, was göttlich ist in ihnen.

Und weil in jedem Menschen etwas Ewiges ist, haben wir nicht willkürlich dem einen oder anderen unsere Neigung zuzuwenden; wir sollen in jedem, der uns begegnet, das Gottesebenbild ernst nehmen und es aus allem Schutt herauszufinden suchen.

Die Feindesliebe soll auch echte Liebe sein

Jesus heisst uns auch die Feinde lieben (Matth. 5,44). Das Wort »lieben« darf hier durchaus nicht abgeschwächt werden. Es wird den Jüngern nicht bloss zugemutet, dass sie korrekt sein sollen zu ihren Gegnern. Jesus fordert auch dem Feind gegenüber eine echte, mächtige Liebe.

Nicht das Böse, das dem Feind anhaftet, soll ich lieben, sondern das Gute, das der Schöpfer in ihn pflanzte. Nicht die Lumpen soll ich lieben, die der Königssohn eben trägt, sondern den Königssohn, der eben Lumpen trägt. Dasselbe gilt natürlich von allen äusserlich und innerlich verwahrlosten Menschen. Der Jünger soll den hellen Blick haben, der durch das, was uneigentlich ist, zum Eigentlichen durchdringt. Er soll nicht von unten her urteilen, sondern von oben her. Er soll jeden Mitmenschen mit dem Auge des Schöpfers ansehen, für den immer das die Hauptsache ist, was er dem Menschen gab.

»Wir kennen niemand mehr nach dem Fleisch«, sagt Paulus (2. Kor. 5,16) -  damit sagt er, wir schätzen niemand ein nach unserem beschränkten Horizont, nach unserem durch Eigenliebe getrübten Empfinden: Wir schätzen jeden nach dem Mass dessen, wie er oben beim Vater geschätzt wird.

Es ist so einleuchtend, was Christus in der Bergpredigt sagt: Erst die Feindesliebe gibt den Beweis, dass überhaupt Liebe da ist. Erst hier ist zu sehen, dass man um Gottes und des Göttlichen willen sich zum Mitmenschen hingezogen fühlt und nicht um eigener Vorteile willen.

Wer den Feind nicht lieben kann, kann auch den Freund, den Bruder, die Mutter, die Braut, das Kind, den Nachbarn nicht lieben (Matth. 5,46-48).

Keine Liebe ohne Ehrfurcht

Weil die Liebe der Zug zum Göttlichen im andern ist, ist sie immer auch Ehrfurcht, Wertschätzung, Hochachtung. Der Liebende achtet den andern höher als sich selbst (Phil. 2,3; Röm. 12,10).

Das bedeutet unter anderem auch, dass man vor der Freiheit des Nächsten Respekt hat. Wenn schon der Allmächtige die Freiheit des Menschen derart achtet, dass er ihn eher riskiert, ehe er ihn durch Zwang bei sich festhält (der verlorene Sohn, Luk. 15), wieviel mehr soll ich die Freiheit meines Bruders achten! Der Vater lässt den Sohn ziehen, aber er hört nicht auf, für ihn zu hoffen.

Die Liebe hofft alles: sie kann nicht davon lassen, zu erwarten, dass der Mitmensch, wäre er noch so weit verirrt, dennoch einmal zurückkehrt zu seinem Ursprung. Diese Hoffnung, dieses Vertrauen, das ein Mensch stillschweigend dem anderen entgegenbringt, hat eine mächtige Kraft, Vorurteile zu beseitigen, Scheidewände niederzureissen.

Seelsorge ist nicht ein Fach oder eine Spezialität, sondern einfach Liebe

Liebe ist Kontakt: ein unmittelbares, feines Verstehen des andern. Wir brauchen keine dicken Psychologiebücher, um Menschenkenntnis zu erlangen. Nicht Forschungsinstitute, nicht Fachzeitschriften sind der Weg zu seelsorgerlichem Verstehen, sondern die Liebe, der von oben kommende mächtige Zug zum Göttlichen im andern.

Er wirkt jene unmittelbare innerste Berührung, wie sie der Menschensohn sofort hat mit jedem, der ihm begegnet. Liebhaben überflügelt bei weitem alles Wissen (Eph. 3,19). Christus erfasst mit einem Schlag das göttliche Original im andern; ebenso durchdringt er im Augenblick die eigentümliche Gottentfremdung gerade dieses Menschen. So kann er dann mit jedem so umgehen, wie er es nötig hat.

Die Liebe hat keine Schablonen, sie trägt keine fertigen Theorien an Menschen heran. Sie versteht jeden einzelnen Menschen von Gott her. Sie hat eine tiefe Ehrfurcht vor der gottgeschaffenen Eigenart, vor dem gottgewirkten Schicksal jedes einzelnen Menschen. Darum wagt sie es gar nicht, ihm etwas Geringeres zu bieten, als was ihr jedesmal durch eine besondere göttliche Offenbarung gegeben wird - so Christus und alle christusähnlichen Menschen.

Liebe ist ein besonderer Zug zu Menschen, die einem besonders gegeben sind

Die Liebe geht auf jeden Menschen ein, dem sie begegnet. Dadurch ist es aber nicht ausgeschlossen, dass sie in einem besonders innigen und stetigen Verhältnis steht zu Menschen, zu denen sie besonders geführt ist.

Christus, obwohl er für alle Menschen da ist, beschränkt seinen Wirkungskreis doch zu Zeiten auf sein Volk, weil es ihm jetzt so gewiesen ist. Er steht auch in einem einzigartigen Verhältnis zu den Zwölfen, von denen er mit besonderem Nachdruck sagt, sie seien ihm vom Vater gegeben (Joh. 17,6.9.12.24). Und unter den Zwölfen hat er in einzigartiger Weise den Johannes geliebt.

Die besondere Gemeinschaft der Familie macht einen Menschen nicht unfähig, sein Volk zu lieben. Im Gegenteil: Das eine ist eine Grundlage und Schule für das andere. Ebensowenig ist der Jünger Jesu durch die besonderen Bindungen in Familie, Freundschaft, Volk, Gemeinde daran gehindert, allen Menschen Liebe entgegenzubringen.

Liebe ist Krieg gegen das Böse am Mitmenschen

Die Liebe, weil sie der Zug zum Göttlichen im Nächsten ist, kann nicht anders als sich gegen das Ungöttliche wenden, das sie an ihm findet. Die echte Liebe vereinigt in sich das Gericht und die Barmherzigkeit (Matth. 23,23; Röm. 12,9; Gal. 4,16).

Sie hat die Kraft, am andern zu unterscheiden, was gut und böse ist, und ihn vom Bösen zu scheiden; sie hat den Mut, wo es nötig ist, durchgreifend zu handeln. Sie verleugnet auch darin nicht ihren Ursprung aus der Liebe Gottes, der gerade dort, wo er liebt, mit strengem Gericht waltet (Hebr. 12,6).

Die Liebe ist ganz gebunden und ganz frei

Die Liebe »übt keinen Mutwillen« bestehenden gesetzlichen Ordnungen oder Sitten gegenüber. Sie kann, wenn es nötig ist, mit denen, die noch an bestimmte äussere Ordnungen gebunden sind, umgehen, als wäre sie selbst noch diesen Ordnungen verhaftet (1. Kor. 9,20). Der Liebende selbst ist aber völlig frei von allen Sitten, Vorschriften, Traditionen und Satzungen.

Die Liebe ist die »Erfüllung« des Gesetzes: Das Mass dessen, was das Gesetz oder die fromme Sitte verlangt, macht sie übervoll. Sie schäumt über, sie ist in göttlichem Sinn ausser Rand und Band. Wo die Liebe fehlt, sind alle Geistesgaben, alle Übungen der Frömmigkeit, alle unerhörten Kraftleistungen im Wohltun, ja der Märtyrertod zu einem Nichts entwertet (1. Kor. 13,1-3).

Datum: 10.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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