Im brasilianischen Hinterland kehren alte Männer und Frauen nach schwerer Feldarbeit unter heisser Sonne müde in ihr Dorf zurück, steigen in einen klapprigen Vorort-Bus - doch keinem der jungen Macho-Männer, die sämtliche Plätze besetzen, fiele es auch nur im Traum ein, diesen "Velhinhos" einen Platz anzubieten - man lässt sie sogar stundenlang stehen, macht sich darüber lustig, wie sie hin- und hergeworfen werden, wegen der vielen Schlaglöcher. Brasiliens katholische Kirche hat deshalb den alten Menschen ihre diesjährige Brüderlichkeitskampagne gewidmet. Dabei prangert sie schonungslos Ungeheuerlichkeiten wie den vorherrschenden Sozial-Darwinismus an, nennt den Umgang der Gesellschaft mit ihren Senioren "pervers" und mobilisiert für christliche Solidarität. In Brasilien, immerhin unter den zehn grössten Wirtschaftsnationen der Welt, erhalten etwa 80 Prozent der Alten nur eine Rente von umgerechnet rund 60 Euro - bei fast annähernd europäischem Preisniveau. Das reicht, wie Raymundo Damasceno, Generalsekretär der Bischofskonferenz betont, natürlich hinten und vorne nicht. Erst recht nicht für unabdingbare Medikamente. Viele bekommen wegen unüberwindlicher bürokratischer Hürden gar nichts. Und trotzdem: Jede fünfte, zumeist kopfstarke brasilianische Familie lebt wegen der hohen Erwerbslosigkeit einzig und allein von dieser Hungerrente, um die häufig schreckliche Verteilungskämpfe entbrennen. Familienmitglieder, etwa drogensüchtige Enkel, nehmen den Alten die Magnetkarte zum Abheben weg, bemächtigen sich des Geldes, schüchtern durch Drohungen oder sogar Schläge ein, verhindern eine polizeiliche Anzeige. In den riesigen, rasch weiter wachsenden Slums lassen sich Staatsvertreter ohnehin nicht blicken. Und wo sollten die Alten sonst hin? Selbst in den primitivsten Asylen fehlen Plätze. Senioren, die sich etwa in Rio de Janeiro wegen Misshandlungen an ein durchaus vorhandenes Spezialdezernat für solche Fälle wenden, wissen, dass sie danach zu den Tätern zurückkehren müssen - wo sie womöglich noch Schlimmeres erwartet. Nach neuesten Untersuchungen nimmt in den brasilianischen Familien der Sadismus gegen alte Menschen ständig zu. Allein 2002 wurden danach mindestens 15.000 Opfer gezählt: geschlagen, gefoltert, sexuell missbraucht, in den Selbstmord getrieben. Regelmässig zeigt das Fernsehen, mit versteckter Kamera aufgenommen, wie selbst Hausangestellte oder Pflegerinnen sogar 90-Jährigen schwere Verletzungen, Knochen- und Wirbelbrüche zufügen, an denen diese schliesslich sterben. "Brasilien hat natürlich Gesetze, die die alten Menschen schützen", betont Staatsanwalt Henrique Rodrigues, "nur fehlt der politische Wille, diese auch tatsächlich anzuwenden". Auffällig, wie wenige Senioren man gerade in Grossstädten auf der Strasse, in Parks oder Cafes sieht. Kein Wunder - sie sind bevorzugtes Opfer krimineller Jugendbanden, die Rentner brutal zu Boden treten, aus dem Rollstuhl zerren, sogar töten, um an ihre Geldbörse zu kommen. Der Verkehr etwa in den "modernen" Millionenstädten Sao Paulo und Rio de Janeiro fast keine Rücksicht: Zebrastreifen werden meist missachtet, die Grünphasen der Ampeln sind kriminell kurz, die öffentlichen Busse regelrecht altenfeindlich konstruiert. Allzu viele Senioren hocken daher nur noch zu Hause im Halbdunkel vor dem Fernseher und warten auf den Tod. "Dieses Wirtschaftssystem", so die Bischofskonferenz in ihrem Leitfaden zur Brüderlichkeitskampagne, "betrachtet den Alten als tote Last, der nicht mehr produziert, nicht mehr konsumiert wie zuvor. Diese Gesellschaft himmelt nur den Profit, die Jugendlichkeit an und schliesst die älteren Menschen aus, als seien sie völlig wertlos." Autor: Klaus HartSehr schwieriges Überleben für die Alten
Der stille Mord
Politischer Wille fehlte bis jetzt
Datum: 17.03.2003
Quelle: Kipa