«Loverboys» sind auch in der Schweiz ein Problem
Livenet: Irene Hirzel, im vergangenen Jahr trafen bei Ihnen 94 Meldungen ein, bei denen beim Grossteil dringender Handlungsbedarf herrschte – wie hat
sich die Meldestelle von Act212 entwickelt?
Irene Hirzel: Die
Nationale Meldestelle besteht aus einem stetig wachsenden Netz von
Ansprechpartnern der Bereiche Polizei, Justiz, Beratungsstellen,
Sozialdienste, Schutzhäuser, psychologische Dienste und weitere. Wir sind
in 22 Kantonen gut vernetzt. Die
Nationale Meldestelle wurde an unseren Schulungen, Fachtagungen, Workshops
immer wieder bekannt gemacht. Die Meldestellenkärtli in drei Sprachen werden
mittlerweile von vielen aufsuchenden Sozialdiensten, einigen Polizeikorps,
Migrationsdiensten und Privatpersonen verteilt. Hilfreich
waren auch die vielen Zeitungsberichte, Radiointerviews und eine
Fernsehsendung. Leute wurden so auf unsere Nationale Meldestelle aufmerksam
gemacht und haben sich bei uns gemeldet.
Als ein Opfer bei unserer Hotline anrief, habe ich sie gefragt, wie sie uns gefunden habe, worauf sie sagte, dass sie im Wartezimmer beim Arzt einen Artikel über uns gelesen habe. Sie hat bei uns Hilfe gesucht und wurde mit Opferanwälten und Opferberatungsstellen vernetzt. Die Frau hat schwerste sexuelle Übergriffe erlebt, die Vergewaltigungen wurden gefilmt und im Netz verkauft. Das Trauma dieser Frau war so gross, dass sie erstmal therapiert und stabilisiert werden muss, bevor sie eine Aussage bei der Polizei machen kann. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.
Können Sie – anonymisiert –
den einen und anderen Fall nennen? Welche Momente bewegen Sie besonders in Ihrer
Arbeit?
Ein
Fall, der uns im letzten Jahr sehr bewegt hat, war die Meldung einer Schweizer
Mutter, die uns erzählt hat, wie ihre damals 15-jährige Tochter in die Fänge
eines Loverboys geriet. Die NZZ hat ausführlich über den Fall «Melanie»
berichtet. Diese und weitere ähnliche Meldungen, die Schweizer Mädchen
betreffen, lösten aus, dass wir gemeinsam mit dem Kinderschutz Schweiz und
der Schweizerischen Kriminalprävention eine gross angelegte Umfrage bei
Polizeidienststellen, Opferberatungen und weiteren Stellen gemacht haben, mit
dem Resultat, dass solche Fälle kaum bekannt sind. Wir haben aber mittlerweile
Kenntnis von mindestens elf Fällen von Loverboys und daraus schliessen wir, dass
dieses Phänomen in der Schweiz weitgehend unbekannt ist. Das wollen wir mit der
Fachtagung im September ändern und haben dazu Spezialisten aus Holland eingeladen,
die Experten in diesem Thema sind.
Ein weiterer Fall war die Meldung, dass ein zehnjähriges Mädchen aus Eritrea im Sudan entführt wurde und eine Lösegeldforderung bei der Schwester, die in der Schweiz Asyl bekommen hat, eingegangen ist. Eine aufmerksame Deutschlehrerin veranlasste, dass die Meldung bei uns ankam. Die Schwester wurde von einer Spezialeinheit der Kantonspolizei betreut und die Fedpol hat über ihre Kanäle im Ausland recherchiert. Es war uns allen bewusst, dass die wenigsten Fälle gut enden und waren umso mehr überrascht, dass das Mädchen befreit und in ein Schutzhaus der UNHCR gebracht werden konnte. Sie war etwa zwei Monate in Gefangenschaft, wurde schlecht behandelt, war stark unterernährt, aber sonst war sie in einem relativ guten Zustand.
Wie wird Act212 mittlerweile
von den Behörden eingestuft?
Die
meisten Behörden reagieren sehr positiv und sind froh, dass sie Meldungen von
uns bekommen. Eine professionelle Analyse unserer Meldungen haben gezeigt, dass
84 Prozent aller Meldungen heiss sind, das heisst, dringend bearbeitet werden
müssen. 2016 hat ACT212 eine Zusammenarbeit mit der Fedpol begonnen. Die Fedpol
bekommt sämtliche Meldungen, die an die Kantonspolizei geschickt werden, mit dem Ziel, bei Verdacht auf Menschenhandel gleichzeitig im Ausland
zu recherchieren und so die Kantonspolizei in ihren Ermittlungen zu
unterstützen. Die Fedpol hat uns in ihrem Jahresbericht 2016 ausdrücklich
erwähnt und betont, wie wichtig die Zusammenarbeit der Polizei mit NGO's ist.
Die Fedpol beschreibt einen Fall, der über unsere Meldestelle reingekommen ist und
ein Verfahren ausgelöst hat. In Kantonen, in welchen die Behörden nicht spezialisiert sind, ist die
Freude dann auch verhalten, wenn wir Meldungen machen. Wir erleben auf
kantonaler Ebene grosse Unterschiede und unser föderalistisches System ist hier
leider nicht sehr hilfreich.
Welchen Unterschied in der
Gesellschaft konnte Act212 inzwischen erreichen?
Das
ist eine schwierige Frage. Wir können ungefähr messen, wie viele Menschen wir
sensibilisiert haben. 2017 gab es 19 Berichterstattungen in verschiedenen Medien,
ACT212 war an 29 Schulungen, Fachtagungen und Workshops dabei. Zahlreiche
Beratungsgespräche fanden bei Politikern, Frauenberatungsstellen und
internationalen Organisationen statt. Ein paar Melder haben angegeben, dass sie
die Meldung aufgrund einer Veranstaltung bei uns gemacht hätten, da sie nun
sensibilisiert seien. Die
Zunahme der Meldungen ist ein weiteres Indiz, dass man genauer hinschaut. Die
Analyse zur Meldestelle wurde zudem vom Bund mitfinanziert. Im 20-seitigen
Dokument wurde die Notwendigkeit einer Hotline klar als wichtiges Instrument im
Kampf gegen Menschenhandel nachgewiesen. In Kürze werden wir Bundesrätin
Simonetta Sommaruga treffen und mit ihr über die Analyse der Meldestelle
sprechen.
Welche Projekte stehen als
nächstes an?
Nach
der Fachtagung «Loverboy» werden wir mit verschiedenen Partnern und Experten
zusammensitzen mit dem Ziel, Präventionsmaterial für Jugendlichen zu diesem
Thema zu entwickeln. Wir möchten die Kinder und Eltern frühzeitig erreichen, um
solche Fälle zu verhindern, da der Schaden für das Kind und die Eltern riesig
ist und ein lebenslanger Prozess bleiben wird. Zudem wird die
Nationale Meldestelle weiter ausgebaut, auch Fälle von Loverboys
miteinbezogen. Das heisst, wir brauchen Partnerschaften mit weiteren Fachstellen,
die mit Kindern arbeiten. Je mehr Fälle bei uns gemeldet werden, desto besser
können wir die Massnahmen wie Prävention, Intervention und Rehabilitation
koordinieren und das hoffentlich in allen Kantonen.
Zur Webseite:
Act212
Zum Thema:
Walk for Freedom: Schweizer NGOs mobilisieren gemeinsam gegen Menschenhandel
Verein ACT212: Das System des Menschenhandels stören
Zwangsprostitution: Kaum in Betrieb ist die Meldestelle zum Bedürfnis geworden
Datum: 12.06.2018
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet