Kommentar

Ungläubige Eltern – haltlose Jugendliche

Vor der Kathedrale in Chartres im Herzen Frankreichs.

Wird die Brisanz der Studie über die Jugendlichen in Frankreich, Spanien und Grossbritannien erkannt? Kann sein, dass ihre Ergebnisse sich nicht geradewegs auf die Schweiz und Deutschland übertragen lassen. Je prekärer die soziale Stellung (von Erwerbstätigkeit der Eltern abhängig), je grösser die Ausgrenzung, desto mehr Probleme machen muslimische Jugendliche. Keine Schweizer Stadt hat Tausende von pakistanischen, türkischen oder marokkanischen Burschen auf ihren Strassen.
Doch wenn die Autoren der Studie behaupten, dass die religiöse Herkunft und Zugehörigkeit  angesichts der sozialen Faktoren nicht zur Erklärung von gewalttätigem Verhalten beitragen (nicht dazu führen?), bleiben sie an der Oberfläche. Denn die Untersuchung zeigt nicht auf, wie das religiöse Selbstverständnis zur gefühlten Ausgrenzung beiträgt. Wenn aber Jugendliche in der Moschee, im Internet oder unter Freunden islamistische Hetze gegen den Westen mitbekommen (Ungläubige sind zu verachten, gegen sie ist Misstrauen geboten), grenzen sie sich selbst ab. Hier sind Imame von den westlichen Staaten in die Pflicht zu nehmen.
Die Studie zeigt, dass muslimische Jugendliche viel mehr Religion mitbekommen als einheimische aus (ehemals) christlichen Familien. Muslime werden beeinflusst, aber schwimmen nicht wie der Rest mit im mächtigen Strom der pluralistischen Gesellschaft, der feste religiöse Identitäten bleicht und auswäscht.
Junge Muslime haben, so sehr ihre Tradition durch die Moderne erschüttert wird, an der Religion Mohammeds noch mehr Halt als ihre westeuropäischen Altersgenossen am Christentum. Dieser Unterschied, von Land zu Land anders ausgeprägt, trägt zur diffusen Befürchtung bei, dass Europa die Islamisierung droht. Und führt auch dazu, dass junge Westeuropäer sich zunehmend vor Fremden in Acht nehmen.
Die Kirchen müssen im Traditionsabbruch ihr Versagen konstatieren: In der Nachkriegszeit sind die Väter und Mütter Westeuropas mehrheitlich dazu übergegangen, ihre Kinder nicht mehr religiös zu unterweisen, sondern ihnen die Religion freizustellen. Es verwundert nicht, dass ein grosser Teil der Sprösslinge nicht mehr im Glauben der Vorfahren zu Hause ist und auch seinen identitätsstiftenden Sinn nicht mehr kennt. Denn schon die Eltern sind ungläubig; sie sind Agnostiker und praktizierende Atheisten, dem Kult des Wohlstands und Wohlergehens verpflichtet.
In Frankreich fühlen sich, wenn man der Studie glauben will, noch die Hälfte der einheimischen Teenager dem Christentum verbunden, in Grossbritannien ein gutes Drittel. Und in der Schweiz?

Datum: 30.10.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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