Die Schönheit kommt auf Nebenpfaden
Es gab Zeiten, da wäre mir ein Artikel über Schönheit höchst verdächtig gewesen. Arnold Schönbergs «schräge» Zwölfton-Musik oder der existenzialistische Roman «Ekel» von Jean-Paul Sartre lagen mir näher. Angesichts einer kaputten Welt waren für mich nur Dissonanz und Zerrissenheit ein echter Ausdruck von Ehrlichkeit.
Ein Lorbeerblatt in der Suppe
Es ist nur eine kurze Notiz. Sie stammt nicht aus der aktuellen Presse. Ich habe sie auch nicht beim Fernsehen oder im Kino aufgeschnappt. Nein. Ich habe sie auf Nebenpfaden entdeckt. Sie wurde hingekritzelt an einem Ort, wo niemand einen Beitrag zur Schönheit erwarten würde.
Der deutsche Theologe Helmut Gollwitzer hat Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes von 1933 bis 1945 herausgegeben. Dort fand ich die besagte Notiz des evangelischen Pfarrers Ludwig Steil. Er ist am 17. Januar 1945 in Dachau hingerichtet worden.
Am 5. Oktober 1944 hatte er an seine Frau geschrieben: «Eben beim Essen erfreute mich die schöne Zeichnung eines Lorbeerblattes in meiner Suppe. Ich liess es auf dem Rand der Suppe liegen während ich ass und staunte über die Verästelung der Rippen und die vollendete Form. So erinnert uns Gott auch in einer Umgebung, in der alles fehlt, was lieblich ist und wohllautet, an die Schönheit seines Reiches. Es hat mir noch an keinem Tag an Grund zum Danken gefehlt.»
Ludwig Steil schrieb in «einer Umgebung, in der alles fehlt, was lieblich ist und wohllautet». Dort, an jenem so hässlichen Ort, feierte er eine Schönheit, die da ist und ihn erreichte. Das hatte zu tun mit seinen Augen. Seine Kameraden haben auch Suppe gegessen, aber kaum einer wird staunend ein Lorbeerblatt auf den Tellerrand gelegt haben. Er hingegen hatte Augen für das Schöne, allem zum Trotz. Das ist nicht selbstverständlich. Er hatte bereits als Zwanzigjähriger geschrieben: «Wunderbar, Gottes Licht erhellt die Augen für alles. Mit einem Mal sehen wir Seine Fussspuren bei uns, sehen, wie wir Grund übergenug haben zum Danken.»
Erhellte Augen, das sind durch Gott geöffnete Augen, die es möglich machen, das Sichtbare und das Unsichtbare zusammenzuschauen; Augen auch, die nicht nur sehen, sondern auch leuchten und damit sichtbar machen. Darum hatte er das Lorbeerblatt beachtet und gestaunt «über die Verästelung der Rippen und die vollendete Form». Das unscheinbare Blatt hatte über sich hinausgewiesen, ihm den Schöpfer gezeigt und zu ihm von der «Schönheit seines Reiches» geredet.
Die Schönheit des Evangeliums
Während meiner Studienzeit in Basel besuchte ich die Ausstellung eines jungen Malers. Der bekannte christlich inspirierte Maler Willy Fries war auch dort. Ich hatte die Gelegenheit, einige kurze Zwiegespräche zwischen dem Künstler und Willy Fries mitzuhören. Eine Bemerkung hat sich mir eingeprägt. Die ausgestellten Bilder waren alle sehr gekonnt gemalt, aber durchwegs hässlich und in düsteren Farben gehalten. Nach langem Hinschauen sagte der eher wortkarge Willy Fries: «Aber so können Sie doch nicht ein Leben lang malen!» Er selber hatte ein waches, offenes Auge für alles Ungerechte und Leidvolle in der Welt. Aber nicht nur dafür.
In seinen Bildern liess Willy Fries immer wieder etwas von der Schönheit des Evangeliums aufleuchten. Und zwar dort, wo man es nicht erwartet. Ich erinnere mich sehr genau an den Abend, als es in mir Tag wurde. Es war nach einer Vorführung des Passionsfilmes von Willy Fries. Seine Darstellung des Gesichts des Gekreuzigten hat sich mir ganz tief eingeprägt und ist für mich zum Augen- und Türöffner für den Glauben an Jesus Christus geworden. Darf man von der Schönheit des Evangeliums sprechen?
Es steht doch im Buch des Propheten Jesaja: «Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn nicht geachtet» (Die Bibel, Jesaja, Kapitel 53, Verse 2-3).
Und viele von den Menschen, mit denen Jesus sich abgab, waren auch nicht schön, sondern entstellt und ausgestossen. Ja, gewiss. Darum hat es seine Berechtigung, wenn die Passion Jesu in der zeitgenössischen Kunst manchmal trostlos hässlich, ja geradezu scheusslich dargestellt wird. Schauen wir jedoch mit offenen Augen hin, so gibt es beim leidenden Christus mehr zu sehen, als nur das Sichtbare.
Im schrecklichen Geschehen zeigt sich die Liebe: Eine Liebe, die sich selbst schenkt. Am hässlichsten Ort erfüllt Jesus seine tiefste Berufung. Und die durch ihn berührten Menschen werden heil, von ganz innen her schön. Wie eindrücklich hat dies Willy Fries gemalt in seinem Bild vom grossen Gastmahl: Je näher die Menschen Jesus kommen, desto heller, leuchtender, transparenter werden sie.
Schön werden
Ja, Menschen, die ihrer Berufung immer tiefer auf die Spur kommen und sich in Liebe verschenken – sie leben und entfalten ihre Schönheit. Es sind Menschen, die – als von Jesus Berührte – Zeichen des Heils setzen in einer unheilvollen Welt. Unter ihnen gibt es immer wieder solche, die auch nach heutigen Massstäben als schön gelten. Aber sie bewahren ihre Schönheit nicht durch Abschottung von allem, was ihr Äusseres gefährden könnte (Es soll ja Models geben, die ihre schönen Beine versichern wollen, weil sie ihr grösstes Kapital seien …).
Im Tiefsten geht es darum, dass in einem Menschen Gottes Ebenbild wieder aufzuleuchten beginnt. Das kann auch mitten auf einem Weg geschehen, der äussere Schönheit kostet. Von der Schönheit des Ebenbildes Gottes in uns spricht auch die Mystikerin Theresa von Avila, wenn sie den Schöpfer zu uns sagen lässt:
Die Liebe hat in Meinem Wesen
dich abgebildet treu und klar:
kein Maler lässt so wunderbar,
o Seele, deine Züge lesen
(…)
In Meines Herzens Tiefe trage
Ich dein Portrait, so echt gemalt;
sähst du, wie es vor Leben strahlt,
verstummte jede bange Frage.
Nicht immer wird solche Schönheit sichtbar in unserem Leben. Da ist mir Ludwig Steils Lorbeerblatt zum grossen Trost geworden: Abgerissen, vertrocknet, gekocht und erst noch in einer Umgebung, wo kaum jemand achtsame Augen hat – dieses Lorbeerblatt wurde für den Gefangenen zu einem mutmachenden Hinweis! Wenn das so ist, sage ich mir, wird der Schöpfer auch mein kleines Leben von Zeit zu Zeit brauchen können, um auf sich hinzuweisen. Sogar dann, wenn meine Augen kaum etwas Schönes in oder an mir finden.
Beim Bewegen dieser Zusammenhänge erinnere ich mich an «Das Bildnis des Dorian Gray», den Roman von Oscar Wilde: Dorian Gray lässt in seinen besten Jahren ein geheimnisvolles Portrait von sich malen, das er in seinem Haus verbirgt. Das Bild wird fortan alle seine Gesichtszüge übernehmen, während er selbst immer gleich jugendlich, frisch und schön bleibt, scheinbar unberührt von seinem ausschweifenden Leben. Zuerst wird er in seiner Schönheit bewundert, allmählich aber wird es immer unheimlicher um ihn.
Von Zeit zu Zeit sucht Dorian sein immer hässlicheres Portrait auf, um es sogleich wieder vor sich zu verbergen. Die Geschichte endet dramatisch und so, wie sie enden muss: Dorian Gray sticht mit dem Dolch in das ihm unerträglich gewordene Bild und wird tot davor aufgefunden – mit seinem wahren Gesicht unter dem Bild des Dorian in jugendlicher Schönheit. Ist Dorian Gray nicht ein unheimlicher, aber prophetischer Hinweis mitten in einem verlogenen Kult um äussere Schönheit, wie er heute betrieben wird?
Schönheit weist über sich hinaus
Die Schönheit als Blume, die welkt – dieses Motiv zieht sich wie ein Refrain durch das Alte und Neue Testament: «Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr» (vgl. die Bibel, Psalm 103, Vers 15.16 mit Jesja, Kapitel 40, Verse 6-8, Jakobus, Kapitel 1, Verse 10-11 und 1 Petrusbrief, Kapitel 1, Vers 24).
Jakobus redet direkt von Schönheit, wenn er sagt, dass die schöne Gestalt der Blume verderben werde. Wie sollen wir dies verstehen? Ist Schönheit etwas Unwichtiges, da sie sowieso vergeht? Allen oben erwähnten Stellen ist gemeinsam, dass sie die Schönheit relativieren. Es gibt kostbarere Dinge als äussere Schönheit: Gnade, Gottes Worte, unvergänglicher Reichtum. Dass die Schönheit relativiert wird, bedeutet aber nicht, dass sie nicht wertvoll wäre. Sie wird nur an den rechten Platz verwiesen. Schönheit, die nicht über sich hinausweist, verliert ihre wahre Leuchtkraft und wird schnell zu etwas Hässlichem.
Die vergängliche Blume ist – wie Ludwig Steils Lorbeerblatt! – ein stiller Hinweis auf ihren Schöpfer, der in Psalm 104 so besungen wird: «Herr, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt.» Die Lilien auf dem Feld erinnern uns – mit ihrer Schönheit und Vergänglichkeit – an die Fürsorge Gottes: «Seht euch die Lilien auf dem Feld an und lernt von ihnen! Sie wachsen ohne sich abzumühen und ohne zu spinnen und zu weben. Und doch sage ich (Jesus) euch: Sogar Salomo in all seiner Pracht war nicht so schön gekleidet wie eine von ihnen.
Wenn Gott die Feldblumen, die heute blühen und morgen ins Feuer geworfen werden, so herrlich kleidet, wird er sich dann nicht erst recht um euch kümmern, ihr Kleingläubigen?» (Matthäusevangelium, Kapitel 6, Verse 28-30). «In der Schönheit der Schöpfung drückt sich der Schöpfer aus. Er zeigt uns seine Liebe, seine Grösse und seine Herrlichkeit. Darin zeigt er auch seine Sehnsucht nach uns» (Bruder Franziskus Joest).
Schönheit geniessen und schützen
Wer sagt uns denn, dass das Vergängliche unwichtig sei? Ich denke an Musik, die im Konzert erklingt. Die wunderbarsten Klänge – im Erklingen verklingen sie. Das mindert ihre Schönheit nicht, sondern unterstreicht sie geradezu. Oder im Buch der Sprüche (Kapitel 5, Verse 18-19) lesen wir: «Freue dich der Frau deiner Jugend (in ihrer vergänglichen Schönheit). Sie ist lieblich wie eine Gazelle und holdselig wie ein Reh. Lass dich von ihrer Anmut allezeit sättigen und ergötze dich allewege an ihrer Liebe!» Hier wird nicht einer Geringschätzung der vergänglichen Schönheit das Wort geredet, sondern einer Haltung der Achtsamkeit und Dankbarkeit, die Schönheit zu geniessen weiss, dann, wenn sie uns gegeben ist.
Gerade die Tatsache der Vergänglichkeit soll uns die Schönheit des Augenblicks entdecken und geniessen lehren. Die fragile Schönheit der Blume – ja der ganzen Schöpfung! – ist zudem unserer Sorgfalt anbefohlen. Zum Auftrag des Menschen gehört es, zu bauen und zu bewahren (1 Mose, Kapitel 2, Vers 15). Schönheit zu lieben und zu ihr Sorge zu tragen ist also nicht nur ein Thema für unverbesserliche Schöngeister. Die Beschäftigung mit der Schönheit rührt an aktuelle gesellschaftliche und entwicklungspolitische Fragen.
Schönheit lebt in der Beziehung
Schönheit zeigt sich in gelebter Beziehung. «Der kleine Prinz» hat mich darauf aufmerksam gemacht. Mit Sorgfalt und Hingabe pflegt er auf seinem Planeten eine Rose, seine Rose. Später kommt er zu einem grossen Garten und erschrickt: Da sind ja unzählige Rosen und alle sind schön, genau wie die Rose auf seinem Planeten. Was ist nun das Besondere seiner Rose? Vom Fuchs erhält er die befreiende Antwort: «Schön ist, was du dir vertraut gemacht hast.» Wie recht hat der Fuchs. Schönheit zeigt sich immer vielschichtiger und beglückender, je mehr uns Menschen und Dinge vertraut werden, vielleicht gerade darum, weil wir dann nicht mehr nur das (vordergründig) Schöne sehen, sondern staunen können über eine Schönheit, die trotz allem da ist – wie bei Ludwig Steils Lorbeerblatt.
Und ganz zuletzt …
Die verwelkende Blume der Schönheit will den Blick freigeben auf das «unverwelkliche Erbe», das auf den Glaubenden wartet, weil er an der Auferstehung Jesu (1. Petrusbrief, Kapitel 1, Verse 3-5) teilhat. Dort wird Schönheit unbeschränkt schön sein – kein Leid, keine Sünde wird sie mehr entstellen, missbrauchen und gefährden können. Davon sprach Ludwig Steil, wenn er – im Angesicht des Todes – über seinem Lorbeerblatt die Schönheit des Reiches Gottes meditierte.
Schönheit will uns an die Hand nehmen und zu Gott führen. Habe ich zu Beginn erwähnt, dass es Zeiten gab, in denen ich nicht über Schönheit hätte schreiben können, so will ich jetzt schliessen mit einem kurzen Gedicht, das mir kürzlich, unterwegs im Wald, eingefallen ist:
Gottes Herz
Schönheit
erschliesst mir
Gottes Herz:
Da komm
ich her.
Diesen Artikel hat uns das Magazin INSIST zur Verfügung gestellt.
Der Autor Hans Rudolf Bachmann ist Pfarrer in Othmarsingen.
Datum: 29.05.2011
Autor: Hans Rudolf Bachmann
Quelle: INSIST