Die Zukunft der Volkskirche ist freikirchlich
«Ich war fünf Jahre lang Pfarrer in einer traditionellen evangelischen Gemeinde in Bremen und habe die Kirche von der Kanzel aus gesehen. Seit 50 Jahren bin ich Laie und sehe die Kirche von unten her. Und diese Perspektive von unten versuche ich den Bischöfen und Brüdern, die von oben gucken, zu vermitteln» sagte der 91-jährige Theologe im Gespräch. Die evangelische Kirche müsse in Zukunft stark freikirchlich geprägt sein, wenn sie überleben wolle. «In einer multireligiösen Gesellschaft können die Kirchen nicht mehr Volkskirchen sein, sondern sie werden auf ihren eigenen Füssen stehen müssen», so Moltmanns Überzeugung.
Stärkere Beteiligung der Gläubigen
Die Voraussetzung dafür sei, dass sich die Gläubigen stärker an der Kirche beteiligten. Es brauche Gemeinden, die vom Einsatz ihrer Mitglieder getragen und verantwortungsbewusst geleitet würden. «Ich nehme an, wir werden eine Freiwilligkeitskirche bekommen – und das ist gut so», sagte Moltmann.
Eine wichtige Rolle in einem lebendigen Gemeindeleben spiele die Mission – «nicht Diktatur, sondern Einladung», wie Moltmann betonte. Sie könne sehr gut durch kleine Gruppen und Hauskreise geschehen, wie er es in Korea studiert habe: «Die deutschen Kirchen sind stark in der Diakonie und schwach in der Mission. Von den koreanischen Kirchen könnten wir lernen, dass Gemeinden selber missionarisch tätig werden müssen, um Menschen einzuladen – nicht durch Missionare, sondern durch die Kirchenmitglieder» Aber nicht nur Mission geschehe durch solche «Zellen»: «Diese Hauskreise könnten gottesdienstliche Funktion übernehmen», ist Moltmann überzeugt.
Kirche von unten
Die Ortsgemeinden seien generell für Mission, Wachstum und Veränderung viel wichtiger als die kirchliche Hierarchie – und das nicht erst seit heute. Schon im 19. Jahrhundert sei Mission nicht «von oben» betrieben worden, sondern durch private Gesellschaften und Gemeinschaften von unten. Moltmann: «So etwas wünsche ich mir auch für die Zukunft: dass wieder aus privater Initiative christliche Gemeinschaften und Engagements entstehen.»
Bis ein solcher Strukturwandel in Richtung Freiwilligkeitskirche geschehe, könne es noch ein halbes Jahrhundert dauern, meinte Moltmann, ergänzte allerdings: «Aber die Geschichte Gottes ist immer voller Überraschungen. Wer das Unverhoffte nicht erhofft, wird es auch nicht finden.»
Zum Autor
Prof. Jürgen Moltmann wurde 1964 international bekannt mit seinem Werk «Theologie der Hoffnung». Zu seinen weiteren bekannten Werken gehören «Der gekreuzigte Gott» (1972) und «Kirche in der Kraft des Geistes» (1975). Daneben schrieb er eine Dogmatik in fünf Bänden, zahlreiche weitere Bücher und theologische Aufsätze und erhielt die Ehrendoktorwürde von insgesamt zwölf Universitäten weltweit. Zu seinen Schülern gehört u.a. der evangelikale anglikanische Theologe Miroslav Volf.
Datum: 23.02.2018
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet.ch / Deutsche Welle