«Der Ausstieg aus der Pornosucht ist enorm schwierig»
idea Spektrum: Rolf Rietmann, kann Pornografie süchtig machen, so wie eine stoffliche Droge?
In Untersuchungen mit Magnetresonanztomografie wurde festgestellt, dass die Gehirne von Pornoabhängigen auf ihren «Suchtstoff» genau gleich reagieren, wie Alkoholiker auf Alkohol und Raucher auf Nikotin. Meine persönliche Erfahrung und meine Beobachtungen aufgrund jahrelanger Beratungstätigkeit ist eindeutig: Pornokonsum kann zur Sucht werden. Bei einigen sogar ziemlich schnell und sie ist so hartnäckig wie alle Süchte.
Pornografie ist via Smartphone für Kinder frei zugänglich. Das Bundesamt für Gesundheit benutzt Sexszenen in der HIV-Prävention. Die Sexualisierung der Gesellschaft schreitet ungebremst voran. Was sind die Folgen?
Die Folgen lassen sich noch nicht abschätzen. Bei den Jungen ist es vor allem sexueller Leistungsdruck, bei den Mädchen der Druck, einen perfekten Körper zu haben und stets sexuell verfügbar zu sein. Damit verbunden können Angst und Verunsicherung sein. Sex wird von der Beziehung getrennt oder gar nie dahin gebracht. Zurück bleibt seelenlose Technik. Der Mensch wird zum Objekt reduziert, fixiert auf den Orgasmus.
Wie denken Sie darüber als Christ, was sind die geistlichen Auswirkungen?
Zuerst dies: Auch viele Christen sind Betroffene. Die Verführung macht nicht Halt vor Gemeindeleitern, Pfarrern und Pastoren. Ich begleite in der Beratung einige. Ein IT-Mitarbeiter hat herausgefunden, dass 20 von 60 Studenten einer evangelikalen Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum sich regelmässig Pornos reinziehen. Das waren zwei Drittel aller männlichen Studenten. Das Problem ist also mitten unter uns. Zudem bin ich überzeugt, dass es Gott um weit mehr geht als nur um eine Zeigefinger-Moral.
Können Sie das genauer beschreiben, worum geht es?
Geistlich betrachtet geht es Gott vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Bibel um das Leben und um Beziehung. Auf diesen beiden Schienen sollen wir unser Leben gestalten. Gott bezieht uns mit ein: Leben soll aus der verbindlichen Beziehung zwischen Mann und Frau hervorgehen. Gott erklärt die Ehe zum Urbild seiner Beziehung zum Volk Israel, zur Gemeinde und zu uns. Die Gemeinde wird als Braut beschrieben, Jesus als Bräutigam. Deshalb ist Treue so wichtig. Das Ablehnen der Beziehung mit Gott vergleicht die Bibel mit Hurerei und Unzucht. Im Buch Offenbarung, Kapitel 21, Vers 8, wird sexuelle Ausschweifung in einer Reihe mit Götzendienst genannt, als Folge der Ablehnung Gottes. Das heisst, nicht die Unmoral zerstört die Gottesbeziehung – das wohl auch – sondern die zerfledderte Gottesbeziehung führt zu Unmoral. Am Anfang steht die zunehmende Entfremdung in der Beziehung, bis hin zum Abbruch. Übrig bleiben oft nur noch blutleere Regeln und Moral. Die grösste Sünde ist die Beziehungslosigkeit zu Gott, ihr folgen die Tat-Sünden. Wir müssen uns immer wieder fragen: Was dient dem Leben? Und was dient der Beziehung? Diese Fragen zeigen, wie verheerend Pornografie wirkt: Sie fördert kein Leben und sie zerstört Beziehung: zu mir, zu Gott und zu Menschen.
Die christliche Ethik ist in unserer Individualgesellschaft keine Norm mehr. Gibt es überhaupt noch allgemein gültige Regeln im Sexualbereich?
Ja, es gibt noch zwei: Es dürfen ungewollt keine Kinder entstehen und es darf ohne Einverständnis keine Gewalt angewendet werden. Unsere Gesellschaft folgt weitgehend der Triebtheorie. Einige Wissenschaftler ringen der Pornografie sogar eine positive Wirkung ab: Dampf ablassen sei wichtig und verhindere Vergewaltigungen.
Ist das richtig? Ist der Mensch ein Dampfkessel mit Ventil?
Sexualität ist ein Trieb. Den kann man aber verschieden betrachten. Eine Sichtweise ist der motivationale Ansatz. Er sagt, wir sind nicht triebgesteuert wie ein Dampfkessel, sondern wir finden in unserer Sexualität Lebensmotive, die uns antreiben. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen macht hier besonders Sinn.
Können Sie uns Beispiel geben?
Ein junger Mann aus streng christlichem Haus war aus irgendeinem Grund überzeugt, er werde nie eine Frau finden, er sei zu hässlich und er verfiel der Pornografie. Innerlich war er äusserst frustriert und verzweifelt. Zwei unterschwellige Motive kamen bei ihm zusammen: Er wollte sich an Gott «rächen» und er verschmolz in der Pornografie mit den angeblich unerreichbaren schönen Frauen.
Dieser Punkt ist wichtig: In unserer Sexualität können sich nicht-sexuelle Motive verstecken. Dieser Ansatz bekommt in der Wissenschaft zunehmend mehr Raum. Einem Trieb bin ich ausgeliefert, Motive aber kann ich bearbeiten. Der junge Mann hat den Ausstieg aus der Sucht geschafft, seine Motive bearbeitet und ist nun glücklich verheiratet.
Gelingt der Ausstieg aus der Pornosucht vielen?
Ich habe heute einen Ratsuchenden gefragt, was ich in diesem Interview sagen solle. Seine Antwort: «Sage allen, sie sollen ja nie damit anfangen!» Der Ausstieg aus dem zur Sucht gewordenen Pornokonsum ist enorm schwierig. Ein nicht geringer Prozentsatz bricht die Beratung ab, bleibt süchtig. Sucht sehe ich als einen Versuch, das Gefühlsleben wieder in Balance zu bringen.
Prävention könnte also ein wichtiger Faktor sein. Wissen Eltern überhaupt, was sich ihre Kinder so alles anschauen?
Vermutlich wissen das nur wenige Eltern. Sie sind zum Teil technisch schlicht überfordert und wissen nicht, was man mit drei Klicks alles herunterladen kann. Heute besitzen schon Kinder Smartphones. Wer Kindern einen PC ohne irgendwelche Schutzfilter ins Zimmer stellt, handelt grobfahrlässig. Es geht nicht nur um Porno, auch um Gewalt oder um Chatrooms, in denen sich Pädophile tummeln.
An sich ist die ganze Gesellschaft gefragt: Eltern, Lehrer, Jugendleiter müssten wissen was läuft und darauf lenkend eingreifen. Geschieht das oder sind alle überfordert?
Natürlich müssten auch Lehrpersonen, Jugend- und Gemeindeleiter das Thema ansprechen. Aber wie viele Predigten werden über Sexualität gehalten? Kaum welche oder nur solche mit dem Mahnfinger. Die christliche Gemeinde verpasst ihre Chance, eine positive Sexualethik zu prägen, um dann zu schimpfen, wenn es nicht gelingt. Dafür prägen uns Medien umso mehr.
Sie beraten Menschen mit Sex- und Pornosucht. Waren Sie selbst davon betroffen?
Ja, mit dem ersten PC ging es so richtig los. Ich klickte während sieben Jahren von einem Pornobild zum anderen. Es gab kein Halten mehr.
Sie arbeiteten in dieser Zeit als Pastor?
So war es. Ich leugnete meine Sucht, so wie ein Junkie dies tut. Porno war meine Strategie, schlechte Gefühle, Probleme und ungelöste Lebensfragen zu «bewältigen». Das hatte nichts mit Genuss zu tun, das war leeres inneres Getriebensein. Ein riesiger Betrug im Versuch, mit meinen Gefühlen umzugehen. In der Pornografie geht es um das isolierte Streben nach Rausch, nach einem Glücksgefühl. Die Kehrseite ist, dass Pornokonsum schnell zur Sucht werden kann, die uns auf die eine oder andere Art ruiniert. Aus der Suche nach Befriedigung wird Zwang. Die Pornosucht war eine «unheimliche Partnerin», die ich nicht so schnell wieder los wurde.
Kommt man überhaupt frei von der Pornosucht?
Klar ja. Bei vielen Männern stelle ich aber leider fest, dass es ihnen genügt, die Sucht weitgehend einzudämmen. Dann steigen sie aus der Beratung aus.
Wie sollen Eltern reagieren, die merken, dass ihr Teenager einen Pornofilm angeschaut hat?
Möglichst unaufgeregt das Gespräch suchen und das Thema sachlich beleuchten, das Kind vor allem mal erzählen lassen. Wie bist du zu diesem Film gekommen? Weshalb hat er dich interessiert? Wie hast du dich dabei gefühlt? So kann das Kind auch allfällige negative Gefühle aussprechen. Also: Zuhören, sachlich bleiben und erst dann allfällige Massahmen ergreifen – etwa einen Filter einsetzen. Danach Gespräch und Beziehung weiter pflegen. Bitte auch hier nicht die Verantwortung an die Technik delegieren. Machen Eltern zu viel Druck, besteht das Risiko, dass sich das Kind vorübergehend anpasst, aber nicht aus Überzeugung.
Wie soll eine Frau reagieren, die entdeckt, dass ihr Mann Pornos schaut?
Sie soll möglichst sachlich bleiben, aber unbedingt über ihre Gefühle sprechen und sagen, was in ihrem Inneren vorgeht – und die Verantwortung ganz dem Mann zusprechen. Dann muss der Mann reagieren und allenfalls Hilfe suchen. Es ist spannend, wenn ein Mann mehrere Stunden in der Woche Pornos schaut, es aber nicht schafft, sich eine Beratungsstelle zu suchen, sondern seine Frau damit beauftragt.
Wie schützen sich Christen präventiv?
Jedes Pornobild ist schädlich. Es prägt unsere Vorstellungen in eine falsche Richtung. Geistlich ist es sehr problematisch. Jesus verweist darauf, dass schon das Begehren einer anderen Frau als der eigenen vor Gott einem Ehebruch gleichkommt. Ein Christ sollte sich immer wieder bewusst machen, dass Gott in ihm wohnt und sich innig mit ihm verbunden hat, inniger als es Mann und Frau je sein können (man lese 1. Korinther, Kapitel 6). Wie erhebend ist doch diese Botschaft und wie billig die Illusion, welche uns die Pornoindustrie verkauft. Und – unter Umständen ist ein Pornofilter angebracht.
Zur Person
Rolf Rietmann (50) ist Theologe und Berater in systemischer Transaktionsanalyse, verheiratet mit Ria, und hat zwei Söhne (7 und 5). Er leitet die Beratungsarbeit Wüstenstrom Schweiz in Pfäffikon ZH. Schwerpunkte sind Beratungen in den Bereichen Identität, Sexualität, Sex- und Pornosucht und Missbrauch.
Zur Webseite:
Wüstenstrom - Sexualität und Identität
liberty4you – Freiheit für dich
Datum: 24.02.2015
Autor: Rolf Höneisen
Quelle: Idea Spektrum Schweiz