Das Vaterunser des Politikers

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Kennen Sie das "Vaterunser des Politikers"? Es soll lauten: "Hallo Boss im Präsidium, unsere Partei ist immer die Beste, die heilige Marktwirtschaft komme, unser Land möge sich genau nach den Illusionen richten, welche in unserem Parteiprogramm stehen. Gib uns täglich unser Sitzungsgeld, lass uns unsere Verwaltungsratsmandate, wie auch wir sie unsern Gegnern zugestehen, führe die Steuerbeamten in die Irre und erlöse uns von neugierigen Journalisten."

Was geschieht in mir, wenn ich einen solchen Text lese? Welches sind unsere spontanen Reaktionen? Kürzlich fiel mir auf, dass es in den Langstreckenflugzeugen, wenn die Crew die Passagiere wecken soll, eine Art "Morgengebet" auf den Bildschirmen gibt - das sind die Komikfilme im Stil von Mister Bean und die "Versteckte Kamera". Die verschlafenen Fluggäste werden aktiviert, indem sie eingeladen werden, über die Ungeschicklichkeiten und die Pechsträhnen anderer zu lachen. Die Schadenfreude gilt als erprobtes Aufwach- und Aufputschmittel.

Die politischen Nachrichten in Zeitung und Fernsehen dienen also wohl ebenfalls zweierlei Zwecken: einerseits, um uns wirklich über wichtige Angelegenheiten zu informieren, die uns alle angehen. Andererseits ist immer auch die Befriedigung unseres Skandalbedürfnisses dabei. Wenn es irgendwo schief geht und Minister haufenweise zurücktreten, dann lehnen sich Leser oder Zuschauer im Genuss der Schadenfreude gerne in den Sessel zurück - und vielleicht mit der Einbildung, dass wir alle das ja ganz anders und besser gemacht hätten...

So benutzen wir leicht und leichtsinnigerwiese Menschen, die sich im Prinzip für uns engagieren, als Mittel zu einem ganz anderen Zweck. Politikerschelte als Volksbelustigung. Das ist eine der Schattenseiten unserer modernen Demokratie. Längst ist es unmöglich, dass wir die Politiker wirklich persönlich kennen. Wir haben meist nur ein Fernsehcliché oder das, was die Public-relations-Abteilung aus dem Peter oder der Margrit gemacht hat, vor Augen. Wir unterstützen diese Männer und Frauen, solange sie uns in den Kram passen und unsere Kriterien erfüllen, und lassen sie erbarmungslos fallen, wenn sie in der politischen Landschaft "untragbar" geworden sind.

Heute ist "Eidgenössischer Dank-, Buss- und Bettag." Dieser Titel kam mir dieses Jahr wieder sehr antiquiert und unrealistisch vor. Bei dem eben geschilderten "Gebrauch und Verbrauch" von Politikern kommt es wohl den wenigsten Zeitgenossen in den Sinn, für die Politiker zu danken (wenn sie es recht machen, ist es schliesslich ihre Pflicht!) oder zu beten (wenn sie es falsch machen, jagen wir sie davon). Und wer käme gar auf die Idee, Busse zu tun für die Fehler unserer Magistraten? Eher rechnen wir ihnen ihre Fehler vor und walzen sie in den Medien schadenfreudig aus.

Ist das richtig so? Unsere menschlichen Spontanreaktionen heissen Schadenfreude und Selbstrechtfertigung. Wie sehen denn die göttlichen Spontanreaktionen aus? Das heutige Evangelium berichtet drei Gleichnisse vom lieben Gott: Der Hirt, der das verlorene Schaf sucht, die Witwe, die eine Münze ihres Notgroschens aus dem Dreck siebt und der Vater, der den zurückgekehrten verlorenen Sohn wieder aufnimmt. Nicht Aburteilen, Kritisieren und schadenfreudiges Geniessen des Scheiterns des Nächsten sind die Spontanreaktionen Gottes, sondern die Suche, die Sorge und die Barmherzigkeit.

Ich glaube, dass hier wirklich eine wichtige Aufgabe für unsere Zukunft liegt. Nicht nur im Umgang mit Politikern, sondern vor allem in der Politik selbst brauchen wir wieder mehr Sorge füreinander. Die moderne Gesellschaft droht uns zu kritischen Individualisten zu machen, die fordern und sich nicht selbst engagieren. Die Probleme, die heute zu lösen sind und die Menschen, die in Notsituationen leben oder ausserstande sind, sich zu helfen, brauchen nicht unsere distanzierten Kommentare, sondern unsere Sorge und unsere Barmherzigkeit, unsere Solidarität von Herz zu Herz und die Hilfe von Hand zu Hand.

Ich habe diesen Text eingeleitet mit dem "Vaterunser des Politikers". Wahrscheinlich wäre es besser am Bettag aufmerksam das richtige "Vaterunser" zu beten: "Vergib unsere Schuld" wäre doch angebracht beim Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag.

Autor: Paul Vautier

Datum: 14.09.2002

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