Im Gefängnis

Auch Kabarettisten pflegen Traditionen. Eine davon ist die Bereitschaft, in der Vorweihnachtszeit Vorstellungen für Menschen zu geben, die sich momentan nicht gerade in der angenehmsten Lebenssituation befinden.

Auf diese Art bekam ich Gelegenheit, Gefängnisse einmal von innen zu sehen, von den Problemen dieser Institutionen zu hören und die verschiedenen Arten der Gefängnisführung kennenzulernen.

Da gab es Direktoren, die ihr Haus unter strengster Bewachung leiteten, andere wiederum wollten das Wort Freiheit bei ihren Insassen nicht ganz aus dem Wörterbuch streichen.

Da ich für den Aufbau der Bühne meist Hilfe benötigte, kam ich auch mit Gefangenen in Kontakt, die immer sehr herzlich und ausgesprochen hilfsbereit waren. Wenn ich im Anschluss erfuhr, was sie alles auf dem Kerbholz hatten, konnte ich es oft kaum fassen.

Es gab Insassen, die fungierten, was Gastspiele betraf, als rechte Hand des Verwalters. Sie waren für die Organisation des Auftritts und für die Künstlerbetreuung mitverantwortlich. Einmal stellte sich mir ein Insasse mit Namen vor, und erst da realisierte ich, dass er sehr berühmt war und ich ihn von seinen Büchern her kannte. Er trug sein Schicksal mit Fassung und stand offen dazu, dass er für kurze Zeit hier sein Zuhause hatte.

Im Gefängnis in Regensdorf war ein Emil-Auftritt angesagt. Nachmittags um halb drei. Der Saal fasste an die 300 Zuschauer. Es gab keinen Vorhang, und da man den Saal auch nicht verdunkeln konnte, sah ich von der Seitenbühne aus jeden Insassen. Unglaublich vielseitige Charaktere! Köpfe, die einen das Fürchten lehrten, dann aber auch wieder solche, die man sich ein Leben lang als Messdiener vorstellen konnte. Sie sassen sehr dicht bei der Bühne. Kurz vor der Vorstellung kamen auch die Wärter und das Verwaltungspersonal in den Saal und setzten sich in die hinterste Stuhlreihe.

Die Stimmung war ausgezeichnet und die Lacher kamen genau so, wie ich es gewohnt war. Wenn 300 Männer gleichzeitig lauthals lachen, ergibt das schon einen beeindruckenden Sound!

Trotzdem war es für mich ungewohnt, beim Spielen die Zuschauer im hellen Nachmittagslicht vor mir zu sehen. Ich schätzte es immer, wenn ich in den Theatern durch die Scheinwerfer so stark geblendet wurde, dass ich zwar die Umrisse der Zuschauer sehen konnte, sie aber im Detail nicht erkannte. So spielte ich viel konzentrierter.

Wie oft hatte ich Die Polizeihauptwache schon aufgeführt! Ich hätte sie im Traum spielen können. Das Zusammenspiel zwischen Sprache und Mimik verlief fast vollautomatisch.

Hier in Regensdorf waren 600 Augen konzentriert auf mich gerichtet. Ich sah ganz genau, wer lachte oder eben auch, wer nicht lachte. Dies verleitete mich schliesslich dazu, während des Spielens über die verschiedenen Typen und ihre möglichen Schicksale nachzudenken. Das bewährte sich gar nicht. Das wurde mir zum Verhängnis!

Mitten in der Nummer, genau da, wo der Korporal Schnyder beim Nachtdienst so viele Telefonanrufe beantworten muss, ausgerechnet da hatte ich plötzlich ein Blackout.

Leerer Kopf, kein Text ... Ich wusste einfach nicht mehr, wie es weiterging. Panik. Das ist in solchen Situationen das Schlimmste, wenn man nicht mehr klar denken kann, und somit auch nicht mehr weiss, wo genau man stehengeblieben ist.

Da geschah ein Wunder. Einer der Insassen aus den hintersten Reihen rief laut:

"Nei, mir chönd jetzt nid cho! Wenn's dunkel isch, gseehnd mir jo nüt!"

Ja, das war mein Text. Er stimmte wortwörtlich. Eigentlich wollte ich sofort weiterspielen, aber es gelang mir nicht. Die Zuschauer fingen so sehr an zu lachen und waren gar nicht mehr zu bremsen. Auch mir überkam es. Wir lachten Tränen zusammen, und jedesmal, wenn ich weiterspielen wollte, überfiel uns ein neuer Lachschub. Da soufflierte mir doch tatsächlich einer, der im Gefängnis sitzt, den Text von der Polizeihauptwache. Der Souffleur wurde natürlich wie ein Held gefeiert und beklatscht.

Diesen unbeabsichtigten Lacherfolg konnte ich mit keiner der anschliessend gespielten Nummern wiederholen.

Emil Steinberger, geboren am 6. Januar 1933 in Luzern, war erst als Postbeamter und Grafiker tätig, bevor er mit seinen ‚Geschichten, die das Leben schrieb' als Kabarettist seinen Durchbruch schaffte. Die obige vorweihnachtliche Geschichte wurde seinem Buch ‚Wahre Lügengeschichten', 1999 by Kein & Aber AG Zürich, entnommen.

Datum: 21.11.2002

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