Bereits wenige Kilometer ausserhalb der pulsierenden Millionenstadt Addis Abeba scheint man in einem anderen Land zu sein. Gerade noch hatten sich die Autos durch die mehrspurigen Strassenschluchten und Alleen von hausähnlichen Baracken gequetscht. Doch nun bestimmen Pferdegespanne das Strassenbild. Die Landschaft ist mehrheitlich grün, das Vieh einigermassen gut genährt. Bei manchen sieht man aber keinen Speck auf den Rippen, sondern nur die blosse Haut, die sich darüberspannt. Vor einigen Jahren war die Strasse eine einzige Rumpelpiste. Die Besitzer des «Europaparks» hätten eine solche Strecke ohne weiteres in ihr Achterbahn-Programm einbauen können. Doch jetzt ist die Strasse in den Südwesten asphaltiert und macht einen gradezu westlichen Eindruck. Sie ist die «Lebensader» des Landes und führt von der Hauptstadt «Addis» nach Jima, einer beachtlichen Provinzstadt im Südwesten. Aber auch sie ist gewöhnungsbedürftig. «Wisst ihr, was die ausgezogene Linie in der Strassenmitte bedeutet?» fragt Fahrerin Bea Hauser. Naja, in der Schweiz dürfte man sie nicht überqueren. «Hier heisst das, dass man gut aufpassen muss, wenn man links fahren will.» Bei einem Dorf ist in der Strassenmitte eine doppelte ausgezogene Linie. «Da muss man besonders gut schauen, wenn man sie überquert.» Ein Grund für den Ausbau ist der Tourismus, durch den die äthiopische Regierung Geld verdienen will. Nach mehreren Stunden Fahrt geht es auf einem zweispurigen Feldweg weiter. Hier beginnt eine der ärmsten Gegenden Äthiopiens. Ein einheimischer Wissenschaftler untersuchte die Lebensumstände der Menschen in diesem Nonno-Gebiet. Sein Bericht wurde auch dem äthiopischen Parlament vorgelegt. Dort gab es lange Gesichter. «Ich habe nicht gewusst, dass wir in Äthiopien so unterentwickelte Gebiete haben», meinte einer der Politiker vielsagend. Hier leben die Ärmsten der Armen. Fliessendes Wasser, Strom, sanitäre Anlagen – in Addis Abeba gehört das fast schon zum Alltag. Hier aber kennt man es noch nicht einmal vom Hörensagen. Die «Mission am Nil» lässt erste Brunnen graben. Sie reichen für ein ganzes Dorf. Im benachbarten Walga-Gebiet betreibt die Mission eine Klinik und hat dafür eigens ein kleines Wasserkraftwerk eingerichtet – Nahrung für den «Löwen Juda».* Peter Lippuner biegt nach einer weiteren Fahrtstunde vom zweispurigen Feldweg ab auf eine herrlich abenteuerliche Strecke. In der Regenzeit ist die Strasse nicht passierbar. Sie führt durch zwölf Senken, die dann von reissenden Bächen überflutet sind. Die Menschen sind dann ganz von der Aussenwelt abgeschnitten – einer Aussenwelt allerdings, in die sie ohnehin kaum gelangen. Nach rund einer Dreiviertelstunde geht es plötzlich nur noch nach oben. Dann hält der Geländewagen auf dem Dach des Nonno-Gebiets. Die Aussicht ist atemberaubend. Der heisse Wind bläst über den Hügel. Die Gegend ist rauh – und schön. Weit unten im Tal strömt ein Fluss. Ringsherum andere Hügel mit einer blühenden Vegetation. Das ist Afrika. Das Gelände hier gehört der Mission. Die Regierung hat es ihr für die Entwicklungsarbeit abgetreten. Jetzt entsteht hier ein Kompetenzzentrum für die Landwirte. Viele von ihnen wurden von der Regierung umgesiedelt von Orten, wo das Wasser zu knapp wurde. Allerdings wurden in zu kurzer Zeit zu viele Menschen hergebracht, so dass der Aufbau hinkt. Die Ernten waren schwach. Dabei ist der Boden fruchtbar. Doch es mangelt an grundlegendem Wissen über Anbaumethoden oder Fruchtfolge. Wegen Seuchen, die man nicht zu bekämpfen weiss, gehen viel zu viele Ochsen vorzeitig vor die Hunde bzw. Geier, und ein Drittel der Ernte wird von wilden Tieren weggefressen. * In Äthiopien glaubt man, dass ein Sohn des biblischen Königs Salomo früher das Land regierte. Damals gehörte auch der Jemen zu Äthiopien. Nach dem Besuch der Königin von Saba in Jerusalem war diese von Salomo schwanger. Ihr Sohn sass dann auf dem äthiopischen Thron. Und während Salomo der König von Juda war, war sein Sohn in Äthiopien eben der «Löwe Judas». Die Herrscherlinie verfolgte man bis Kaiser Haile Selassie (1974 gestürzt worden) auf den israelischen König zurück. Lesen Sie auch Teil 2: Behinderte ernähren in Äthiopien ihre Familien
Foto: Bauer, der im Nonno-Gebiet mit Ochsen pflügt.Strasse ins Niemandsland
Politiker entdecken ihr Land...
Mit dem Ochsen per du
Kinder stehen am Strassenrand. Sie winken, lachen und rennen dem Wagen nach. Bauern treiben ihren Ochsen zum Pflügen an. So wird hier Ackerbau betrieben. Der Ochse ist gleich wichtig wie das Dach der Rundhütte über dem Kopf. Darum darf er bei einigen Familien sogar in der Hütte übernachten. Denn ohne ihn ist vieles, wenn nicht alles, aus. Im unterentwickelten Gebiet sterben freilich viele dieser gutmütigen Kraftpakete an Seuchen.Das ist Afrika
Der Fortschritt kommt langsam. Seit Mitarbeiter der Mission den Einheimischen den Latrinenbau beigebracht haben, sagen die Leute: «Jetzt rutschen wir nicht mehr aus, wenn wir hinter dem Haus durchlaufen!» Klar, dass die hygienischen Bedingungen dadurch verbessert werden konnten.
Oder Teil 3: Geburt auf dem Lkw
(Alle Fotos: Irene Gerber)
Datum: 02.11.2005
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch