Weinen

Der kleine Michael lehnte sich an den Arm seines Vaters und sah fragend zu ihm hoch. „Papa, ich weiss, dass du am liebsten weinen würdest. Warum machst du’s nicht?“ Markus sah mit etwas hilflosem Blick zu seinem Sohn hinunter, legte ihm den Arm um die kleinen Schultern und erwiderte achselzuckend: “Wir sind Männer mein Schatz. Wir weinen im Regen. Wo es keiner sieht."

Weinen Sie erst dann, wenn es keiner sehen kann, oder sind Sie so frei, den Tränen ihren Lauf zu lassen, wenn der Druck in der Seele zu gross ist?

Tränen aus Mitgefühl, Ohnmacht, Traurigkeit, Wut sind ein äusseres Zeichen dafür, dass unser Inneres aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ins Lachen können wir Aussenstehenden oft einstimmen, mitweinen nur dort, wo wir die Tränen sehen können. Das geschieht viel seltener. Denn es fällt schwer sich von seiner verletzlichen und schwachen Seite zu zeigen. Manche schämen sich sogar deswegen.

„Ich bin sehr traurig“, sagte mir ein Besucher, „aber man sieht es mir nicht an“. „Ich bin es gewohnt, meine Tränen zu beherrschen. Man muss ja schliesslich Haltung bewahren!“

Muss man das? Wie soll dann die Traurigkeit aus der Seele fliessen? Wer zu seinen Gefühlen in Freude und Leid steht, lebt viel leichter. Erst in unserer Schwäche können wir erfahren, dass wir trotz allem geliebt sind. Dann kommen wir dem näher, was wir als Gnade Gottes erahnen. Das macht uns stark in der Schwäche.

Ein Freund klagte: „ Ich fühle mich, wie wenn Gott mich in Säure getaucht hätte.“ Eben hatte er erfahren, dass seine minderjährige Tochter schwanger war. Für ihn brach die Fa-milienwelt zusammen. Dann übers Jahr berichtete er strahlend, von der Taufe seines En-kels. Der Grossvater sieht in ihm heute ein Geschenk Gottes.

Wer andere an seiner Traurigkeit Anteil nehmen lässt, kann auch die Freude zulassen und diese mit andern teilen.

„Denn sein Zorn dauert nur einen Augenblick, doch seine Güte ein Leben lang. Wenn man am Abend auch weint, am Morgen herrscht wieder Jubel“. (Psalm 30,6) Darauf dürfen wir vertrauen.

Datum: 14.04.2008
Autor: Roman Angst
Quelle: Bahnhofkirche Zürich

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