Immer wieder spähte Bernardus angestrengt vom Wehrgang auf der Burgmauer ins Schneegestöber. Dann, völlig unvermittelt, hatte sich die Sonne durch die Wolken hindurchgezwängt wie durch eine enge Pforte. Und hinter ihr folgte der blaue Himmel, einer königlichen Schleppe gleich. Das wärmende Licht verwandelte die Landschaft in ein verzaubertes Märchenland, still und voller Unschuld. Zwei winzige Punkte näherten sich allmählich der Burg. Mit zusammengekniffenen, vom Licht tränenden Augen spähte Bernardus über die gleißende Schneefläche. Konrad von Falkenstein? Tatsächlich! Der Hüne führte das Streitross am Zügel, stapfte neben ihm her durch den Schnee. Erst jetzt bemerkte Bernardus die kleine Gestalt, die wankend auf dem Sattel saß. Als Ross und Reiter am Fuße des Felsens im Schatten verschwanden, lief Bernardus rasch zurück in den Hof und läutete die Glocke der Kapelle. Das Hämmern in der Schmiede verstummte. Mit einem Male belebte sich der Burghof. Die Knappen, Knechte und Mägde eilten herbei. In wenigen Augenblicken war die bisher kaum berührte Schneeschicht von unzähligen Schuhabdrücken gezeichnet. Wer nicht unbedingt musste, war in der Wärme geblieben. Aber das Läuten der Glocke um diese Zeit war ein zwingender Grund, den Feuerherd zu verlassen. Zuletzt öffnete sich auch die Tür des großen Wohnturmes. Katharina von Falkenstein, eingehüllt in einen Mantel aus Fell, schritt rasch zum Tor. Mit rasselnden Ketten rumpelte die Zugbrücke nach unten und öffnete den Blick nach draußen. Schweigend und gesenkten Hauptes führte Konrad von Falkenstein sein Ross ins Innere der Burg. Katharina ergriff ihn bei der Hand: «Ich bin froh, dass du wieder da bist! Konntest du …?» Er schüttelte stumm den Kopf. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Aber so waren es alle Bewohner der Burg gewohnt. Der Ritter, so gütig er war, zeigte niemals Gefühle. Irgendwann mussten sie ihm abhanden gekommen sein. Das war – so erzählten die, die ihn besser kannten – auf seinem Kreuzzug im Heiligen Land geschehen. Früher war Konrad ein Mensch gewesen, der über sich und die ganze Welt schallend lachen konnte. Aber weder Lachen noch Weinen waren aus Jerusalem nach Falkenstein gekommen. Vielleicht war das Lachen auch schon früher verschwunden, nach der Totgeburt des ersten und einzigen Kindes. Katharina von Falkenstein, einst eine lebenslustige Frau, war still geworden in diesen Jahren. Vielleicht war es ja dieser Schmerz gewesen, der Konrad ins Heilige Land hatte aufbrechen lassen. Wie auch immer: Darüber redete man wenig in dieser Burg. Die Männer, die aus Jerusalem hierherkamen und Falkenstein aufgebaut hatten, hatten damals ein Gelübde abgelegt. Und da Konrad selber schwieg, schwiegen auch die anderen. Nun öffnete Konrad vorsichtig den schweren Mantel und zog ein kleines Bündel hervor. Als Katharina es ergriff, hallte ein dünnes Stimmchen über den still gewordenen Burghof. Katharina erstarrte für einen Augenblick. Als sie den Säugling schützend an sich zog, konnte sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Die Blicke der Eheleute trafen sich in einer Weise, wie es der Prior schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ein schmerzliches Lächeln huschte über sein Gesicht. War dies der Beginn? Gütiger Gott, lass es so sein! Bernardus’ Auge fiel nun auf den etwa fünfjährigen Blondschopf, der zitternd auf dem großen Pferd saß. Vorsichtig hob er ihn aus dem Sattel. «Na, mein Kleiner, wie heißt du denn?», fragte er mit aufmunternder Stimme. Aber das Kind schwieg und blickte starr vor sich hin. «Das gibt sich schon wieder. Jetzt komm erst mal ans warme Feuer. Du bist ja ganz steif vor Kälte.» Widerstandslos ließ sich der Knabe an der Hand wegführen. Eine seelenlose kleine Hand!, durchfuhr es Bernardus schaudernd. Das Kind musste Schreckliches erlebt haben. Als sich die schwere Zugbrücke wieder ächzend geschlossen hatte, trennte sie zwei Welten voneinander. Hier die sichere Wärme hinter dicken Mauern. Draußen, irgendwo im verschneiten Wald, ein großes und ein kleines Holzkreuz. Die blutigen Spuren mit einem weichen weißen Mantel gnädig bedeckt. Konrad schaute Katharina und Bernardus lange nach. Dann führte er Sirus, seinen Hengst, in den Stall. «Aber vielleicht durch ein Kind …?», murmelte er leise vor sich hin. Irgendetwas tief in seiner Seele begann sich zu regen. Er hatte nicht geglaubt, dass es noch da war. War es Hoffnung? Konrad verwarf den Gedanken und rieb den verschwitzten Rappen mit Stroh ab. Wer konnte das schon wissen? Langsam zog er mit seiner linken Hand etwas aus dem Wams. Matt schimmerte das schlichte goldene Kreuz daraus hervor. Auch er hatte einmal daran geglaubt! Aber das war schon lange her. Rasch ballte sich seine Linke zur Faust zusammen und begrub das Kreuz unter den Fingern. Das Leben war anders! Fortsetzung Vorabdruck des Romans „Falkenstein - Das Geheimnis des verborgenen Tales“ von Bruno Waldvogel-Frei. Der Roman erscheint in diesen Tagen im Brunnen Verlag Bestellung Quelle: Copyright Brunnen Verlag Basel. Mit freundlicher Erlaubnis.
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Der Roman ist bereits bestellbar unter http://shop.livenet.ch/index.html?nr=111999&f=0
Datum: 01.09.2008