Studien und Religionsmonitor

Kirche? Nein, danke – Spirituelles? Ja, gern

Mann am beten
Nochmals hämmert es auf die geschwächte Kirchenseele. Missbrauchsmeldungen bei den Katholiken und Enthüllungen von der Läderach-Schule erschüttern die christliche Landschaft. Doch nebst Austrittsthematik gibt es Fakten zum spirituellen Bedürfnis.

Zum zweiten Mal innert Kürze eine landeskirchliche Abdankung besucht, bleibt mir Kopfschütteln und die Erkenntnis: Schon wieder ging der Gottesdienst an der Trauergesellschaft vorbei, nur wenige konnten der Feier folgen. Eine Chance für einen wertvollen Dienst der Kirche wurde verpasst.

Beim «Religionsmonitor» geht es unter anderem darum, dass die «Persönlichen Transzendenz-Erfahrungen» einen wesentlichen Teil des Menschseins ausmachen, und die Distanzierung zur Kirche nicht automatisch zeigt, dass die Personen an Glaubensfragen desinteressiert sind. Wie kann ihnen begegnet werden?

Nicht nur Austritte, auch keine Eintritte

Ebenfalls schrieben die Professoren Stefan Huber (Empirische Religionsforschung) und Isabelle Noth (Praktische Theologie) kürzlich für die NZZ den Gastkommentar «Das Narrativ vom Niedergang der Kirchen ist irreführend – religiöse Erfahrungen nehmen zu». Er zeigt Zukunftswege auf.

Zuerst jedoch Hintergründe zum Kirchenschrumpfen. Der Religionsmonitor von Anfang 2023 hat hier den Fokus auf Deutschland und befragte 4'363 Personen. Seit Mitte 2022 ist der Anteil der Bevölkerung, der Kirchenmitglied ist, erstmals unter die 50-Prozent-Marke gerutscht. Ein wesentlicher Faktor hierin spielt neben aktiven Austritten der deutliche Überhang an Sterbefällen gegenüber Neueintritten. Die Studie prognostiziert deswegen eine Halbierung der Kirchenmitgliedschaften bis 2060; statt der derzeit rund 44 Millionen gäbe es dann nur noch 22 Millionen Mitglieder.

Krise führt auf die Knie

Laut Religionsmonitor wurde der gesellschaftliche Zustand der Krise zum Normalzustand; spätestens nach den pandemischen Jahren. Krisenzeiten seien Anlass zur Sorge, aber auch für eine verstärkte Sinnsuche. So stiegen zu Beginn der Coronapandemie die Google-Suchen nach Gebeten weltweit um mehr als 50 Prozent.

Religion – verstanden als Quelle von Sinn – helfe Menschen zudem beim Umgang mit Stress und Ungewissheit. Das habe sich bereits während der europäischen Migrationskrise 2015/2016 gezeigt. Menschen, die sich als religiös einschätzen, fühlten sich weniger durch Migration bedroht.

Mensch macht «Präsenz- und Schutzerfahrung»

Noth und Huber beschreiben: «Unter einer religiösen Erfahrung verstehen wir ein Ereignis, in dem Menschen einer über- oder aussermenschlichen, als höher empfundenen Wirklichkeit gewahr werden (…) Beispiele: Einssein mit dem Kosmos, das Spüren der Gegenwart von geliebten Menschen, die körperlich nicht anwesend sind, oder das Gefühl, in einer bedrohlichen Situation von einer spirituellen Wirklichkeit bewahrt worden zu sein.»

Ebenso wurde klar, dass religiöse Institutionen – insbesondere die Kirchen in Deutschland – ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft seien, die mit ihren umfangreichen Strukturen Begegnung und gesellschaftliches Engagement ermöglichen. Das mache etwa die Hilfeleistungen für Geflüchtete deutlich. Daher seien religiöse Organisationen auch auf gesellschaftlicher Ebene wichtige Stützen in Krisenzeiten.

Räume für Austausch und Glaubenserfahrung

Die Häufigkeit des Gebets nahm von 2007 bis 2017 stark ab. Interessanterweise genau umgekehrt verhielt es sich mit den religiösen Erfahrungen der befragten Personen. Der Religionsmonitor erklärt: «Dies ist ein Anhaltspunkt, dass religiöse Erfahrungen eine von der Sozialisation und Kirchlichkeit unabhängige Quelle des Religiösen sind.»

Die Autoren empfehlen: «Es gilt, Deutungsräume zu sichern, in denen sich Menschen artikulieren und reflektieren können – besonders solche, die sich in existentiell schwierigen Situationen befinden wie beispielsweise in Spitälern und Gefängnissen. Ebenso notwendig ist es in Schulen (…) die Schüler vorbereitend einzuführen» und fügen an: «In all diesen Bereichern verfügen Kirchen über grosse historisch gewachsene Kompetenzen, auf die Gesellschaft und Politik zurückgreifen können.»

«Dafür ist es notwendig, dass Kirchen in Bezug auf die hoch individualisierten Glaubenswelten sprach- und anschlussfähig werden (…) (Sie) sollten nicht nur lernen, Bücher zu lesen, sondern sie sollten auch Menschen 'lesen' können. Nur dann werden sie für die Glaubenswelten heutiger Menschen eine Rolle spielen können.»

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Datum: 28.09.2023
Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet

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