Müssen Christen in Aserbaidschan «verängstigt laufen»?
Mit dem Liebeslied «Running Scared» («Verängstigt laufen») hatte das Duo Ell und Nikki aus der Hauptstadt Baku den europäischen Sängerwettstreit gewonnen. Aserbaidschan liegt im östlichen Kaukasus am Kaspischen Meer. Nachbarn sind Russland, Georgien, Armenien und Iran. Das Land ist ähnlich gross wie Österreich. Es gilt als gemässigt islamisch.
Zu 90 Prozent muslimisch
Rund 90 Prozent der 8,5 Millionen Einwohner sind Muslime; davon sind 75 Prozent Schiiten und 25 Prozent Sunniten. Der Rest der Bevölkerung besteht aus Atheisten, Christen, Juden und Anhängern anderer Religionen.
Die meisten der rund 125’000 Christen sind russisch-orthodox. In Baku versammelt sich eine deutschsprachige evangelisch-lutherische Gemeinde mit knapp 80 Mitgliedern. Ferner gibt es den Bund der Evangeliumschristen-Baptisten mit 25 Gemeinden und 3100 Mitgliedern und den Bund der Siebenten-Tags-Adventisten mit 23 Gemeinden und rund 700 Mitgliedern.
Christen verängstigt
Offiziell garantiert die Verfassung Gewissens- und Religionsfreiheit. Alle religiösen Gruppierungen müssen sich staatlich registrieren lassen. Dabei kommt es aber immer wieder zu Problemen, was vor allem Christen leidvoll erfahren. Somit könnte der Titel des Siegerliedes beim Eurovision Song Contest auch die Lage der Christen beschreiben: Sie sind verängstigt.
Christen werden eingeschüchtert
Laut dem Hilfswerks für verfolgte Christen «Open Doors» werden Christen vielfach eingeschüchtert und in den Medien angegriffen: «Sie werden als Kriminelle und Landesverräter dargestellt. Arbeitgeber behalten Christen oft nur ungern als Mitarbeiter.»
Das Christentum werde von vielen als ausländische Religion und die Abkehr vom Islam als Verrat an der Nation betrachtet. Auf dem von Open Doors entwickelten Weltverfolgungsindex steht Aserbaidschan auf Platz 24, eingerahmt von Algerien und Libyen.Die Herstellung, Einfuhr, Verbreitung oder der Verkauf von religiöser Literatur ohne staatliche Genehmigung ist eine Straftat. Alle religiösen Aktivitäten von Organisationen, die nicht offiziell registriert sind, sind verboten.
Freiheit mit zweierlei Mass
Diese Unterdrückung geschieht nicht seit kurzem, sondern seit langem mit System. Eine Expertengruppe für Religionsfreiheit der Europäischen Baptistischen Föderation (EBF) und des Baptistischen Weltbunds (BWA) stattete dem Land 2009 einen Besuch ab.
Dabei gewannen die Fachleute den Eindruck, dass Religionsfreiheit mit zweierlei Mass gewährt werde. In einem Brief an Staatspräsident Ilham Aliyev (Baku) hielten die Baptisten fest, dass die Religionsbehörde und auch traditionelle Religionsgruppen bestätigt hätten, volle Religionsfreiheit zu geniessen. Doch Gespräche mit Baptisten hätten ein ganz anderes Bild ergeben. Sie litten unter Intoleranz und Diskriminierung und würden von der Polizei schikaniert und eingeschüchtert.
Arbeitslager
Weltweit für Schlagzeilen hatten etwa die Inhaftierungen der Baptistenpastoren Zaur Balayev und Hamit Shabanov aus Aliabad an der Grenze zu Georgien 2008 und 2009 gesorgt. Nach Einschätzung der Baptisten seien beide «unter falschen Anschuldigungen nur deshalb verhaftet worden, weil sie Baptistenpastoren unregistrierter Gemeinden sind».
Balayev war zehn Monate lang in Haft. Für seine Freilassung hatte sich unter anderem die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen eingesetzt. Shabanov war zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt worden, überraschend aber nach acht Monaten freigekommen.
300 religiöse Gruppen warten
Doch ein Jahr nach dem Besuch der baptistischen Menschenrechtsfachleute hatte Balayev erneut Ärger mit den Behörden. Polizisten verwarnten ihn, weil er wieder Gottesdienste gefeiert hatte. Die waren nach Behördenangaben illegal, weil seine Gemeinde keine Registrierung vorweisen konnte. Doch alle Versuche, diese zu erlangen, waren zuvor gescheitert, teilte Balayev dem BWA mit. Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen warten derzeit 300 religiöse Gruppen auf ihre Anerkennung.
Asyl in Österreich
Vor staatlicher Willkür war eine sechsköpfige christliche Familie von Aserbeidschan nach Österreich geflohen. Ihrem Antrag auf Asyl wurde im Mai 2010 in Graz stattgegeben. Wie im Anerkennungsverfahren bekannt wurde, war der Ingenieur und Lehrer Yusifli Rafael mit seiner Familie geflüchtet, nachdem er zwei Tage lang von der Polizei verhört und gefoltert worden war.
Auch seine Frau und ein Sohn waren von der Polizei geschlagen worden. Zudem war versucht worden seine Enkeltochter aus dem Kindergarten zu entführen, was jedoch misslang. Ein befreundeter Polizist hatte die Familie gewarnt, dass sie sich in Lebensgefahr befinde.
Gottesdienst verhindert
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation «Forum 18» ist es noch im April dieses Jahres zu Übergriffen auf Christen gekommen. Polizisten hatten in der zweitgrössten Stadt des Landes, Gäncä, dafür gesorgt, dass ein geplanter gemeinsamer Gottesdienst von drei christlichen Gemeinden ausfallen musste.
Deren Mitglieder waren durch die Polizisten, die mit zwei Bussen in die Stadt gebracht wurden, so massiv eingeschüchtert worden, dass die Gemeinden sich daraufhin entschlossen hatten, den Gottesdienst abzusagen.
Unterdessen hat Staatspräsident Aliyev ein «Weltforum für interkulturellen Dialog» ins Leben gerufen. Es soll nach seinen Worten sicherstellen, dass «Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit umfassend in Aserbaidschan verwirklicht werden». Jedoch sind auch nach dem Song Contest weitere massive Verletzungen der Glaubensfreiheit zu verzeichnen.
Datum: 09.06.2011
Quelle: idea