«Eine Gratwanderung zwischen Show und Feier»
«ideaSpektrum Schweiz»: Nach welchem Gottesdienst sind Sie zuletzt glücklich und gestärkt nach Hause gefahren?
Michael Giger: Das war ein ganz normaler landeskirchlicher Gottesdienst an einem Sonntagmorgen. Die Orgel hat gespielt, und es gab populäre Musik. Gefallen hat mir dabei der Brückenschlag zwischen Musik und Wort. Es war ein wirklich inspirierender reformierter Gottesdienst in Buchs im Rheintal.
Welche Bedeutung hat der Gottesdienst für den Christen?
Er ist Ausdruck seiner Spiritualität, seiner Glaubensform. Es genügt nicht, im stillen Kämmerchen die private Religion zu pflegen. Es ist wichtig, dass wir unsere Spiritualität und unsern Glauben gemeinsam feiern können.
Warum braucht es heute vermehrt «innovative Gottesdienste»?
Der Reiz meiner Stelle als Projektleiter für lebendige Gottesdienste hängt mit der Freude an unserer alten und bewährten Tradition zusammen. Der grosse Dampfer läuft und ist auf Kurs. Doch wir leben in einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft, und da brauchen wir Flexibilität und Innovation. Der Inhalt ist der gleiche geblieben, doch die Verpackung stimmt nicht mehr. In ihrer Visitation 2007 hat die St. Galler Landeskirche festgestellt, dass ihr die ganze Generation von den Konfirmanden bis zu den 50-Jährigen fehlt. Um die fehlende Generation wieder anzusprechen, muss gerade die Landeskirche innovativ bleiben. So suchen wir nach neuen Formen, ohne die Tradition zu verlieren. Im Kanton St. Gallen verfolgen derzeit 23 Kirchgemeinden innovative Projekte.
Nennen Sie bitte ein gutes Beispiel.
Ich denke an Altstätten, eine der Gemeinden, die ich begleite. Eine Gemeinde, die bereits alle Generationen erreicht. Hier gibt es auf verschiedenen Ebenen Angebote für alle Altersgruppen, von der Freizeitgestaltung bis zur Erwachsenenbildung in den Bereichen Ehe und Erziehung. Am Sonntagmorgen gibt es einen Gottesdienst im klassisch-traditionellen Stil mit 150 bis 200 Besuchern. Dazu kommt seit zwei Jahren am Freitagabend ein zweiter Gottesdienst. Er folgt auch der reformierten Liturgie, hat aber ein modernes Kleid mit populärer Musik, Multimedia und einem speziellen Kreuzverhör.
Was soll dieses Kreuzverhör?
Zur Predigt am Sonntagmorgen sagt der Besucher einfach Ja und Amen. Die Schule hat schon lange erkannt, dass diese Form von Frontalunterricht nicht mehr in die heutige Zeit passt. Am Freitagabend steht der Pfarrer nach der Predigt Red und Antwort. Er stellt sich einem Kreuzverhör. Zu diesem Gottesdienst kommen heute etwa 80 Personen, ohne dass der Besuch am Sonntagmorgen zurückgegangen wäre. Mein Auftrag war es ursprünglich, ein Folgeangebot für die Konfirmanden zu entwickeln. Doch jetzt kommen die Besucher aus allen Generationen!
Welche innovativen Ideen kommen heute in den Gottesdiensten besonders gut an?
Ich gehe vom Leitsatz unserer St. Galler Kirche aus: «Nahe bei Gott - nahe bei den Menschen». Wir müssen uns immer wieder fragen: Was heisst nahe bei den Menschen? Ein innovativer Gottesdienst ist dann gut, wenn aktuelle Lebensthemen angesprochen werden und wenn er in einer verständlichen Sprache gehalten wird. Bei einem traditionellen reformierten Gottesdienst weiss ich nicht, was mich inhaltlich erwartet. Beim innovativen Gottesdienst wird mir auf einem Flyer einiges über das Thema gesagt. Es erwartet mich eine Feier, zu der auch Filme und populäre Musik gehören können, sicher aber auch Melodien, die man mitsingen kann.
Müssen innovative Gottesdienste laut und launig sein?
Eine Superfrage! Die Antwort lautet definitiv: Nein! Als Kirchenmusiker bin ich immer wieder mit dieser Frage konfrontiert. Manches Orgelspiel am Sonntagmorgen ist bedeutend lauter als die moderne Musik. Auf der andern Seite haben wir in Altstätten eine Jazz-Formation, die von den Instrumenten her ganz nahe bei der gepflegten klassischen Musik liegt. Wenn die Jugendlichen einmal im Jahr an der Konfirmation richtig loslegen, dann wird es einfach laut. Aber, ehrlich gesagt, war es ja die Generation meiner Eltern, welche die wirklich lauten Konzerte von Rolling Stones und Pink Floyd besucht hat. Und launig? Im Gottesdienst versuchen wir, das Wort so mit Musik, Bildern und Theater zu verbinden, dass berührende Momente entstehen - «Touching moments». Wir müssen wegkommen vom nüchternen, kopflastigen Gottesdienst. Man soll auch mal lachen können. Doch zwischen Andächtigsein und Lachen die richtige Balance zu finden, ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.
Was halten Sie von der Aufteilung in einen klassischen Gottesdienst um 9 Uhr und einen modernen Gottesdienst um 10.30 Uhr, wie sie einzelne Freikirchen anbieten?
Mein grosser, vielleicht frommer Wunsch ist ein Gottesdienst, in dem alle Generationen zusammenkommen und in einer zeitgemässen Art gemeinsam Gottesdienst erleben und feiern. Ein gutes Beispiel sehe ich in Buchs im Rheintal. Hier wird in jedem Gottesdienst versucht, auch populäre Kirchenmusik und moderne Elemente einfliessen zu lassen. Wir nennen das «sanfte Veränderung». Dies gemäss einem Erlass der St. Galler Kirche von 2007, dass in allen Kirchgemeinden eine Vielfalt von Musikstilen angeboten werden muss. Werden an einem Sonntagmorgen zwei verschiedene Gottesdienste angeboten, ist es auf jeden Fall wichtig, dass es auch ganz klar verbindende Elemente gibt, zum Beispiel gemeinsames Liedgut. Sonst entsteht eine Gemeinde in der Gemeinde.
In Altstätten haben Sie zwei Gottesdienste.
In Altstätten ist die Situation anders. Da werden am Sonntagmorgen schon seit Jahren populäre und klassische Lieder gesungen. Aber mit dem Gottesdienst am Sonntagmorgen erreichen wir einfach nur einen Teil der Bevölkerung. Viele Leute wollen ausschlafen, mit der Familie brunchen oder wandern gehen. Da haben wir mit dem Freitagabendgottesdienst «Punkt8» einen Zweitgottesdienst geschaffen für alle, welche am Sonntag nie in die Kirche gehen würden und welche ganz auf die Orgel verzichten können.
Der lebendige Gottesdienst lebt von vielen Mitwirkenden. Wie können sie gewonnen werden?
Der wirklich inspirierende Gottesdienst zieht auch Mitarbeiter an. Qualitativ hochstehende Musik zieht gute Musiker an. Das gilt auch für Multimedia oder Theater. Eine wichtige Voraussetzung ist der Paradigmenwechsel von der pfarrherrschaftlichen Gemeinde zur Mitarbeitergemeinde. Die Gemeinde muss lernen, als Team zu arbeiten und die Teamkultur auch auszubreiten. Mein Slogan lautet da: Wenn jemand in einer Kirchgemeinde seine Gaben und Fähigkeiten in den Dienst anderer stellen kann, findet er Heimat. Diesen Gedanken müssen wir vermitteln.
Wie passen freche, innovative Elemente zur Würde eines Gottesdienstes?
Ehrlich gesagt: Alle modernen Gottesdienstformen sind eine Gratwanderung zwischen Show und Feier. Wir brauchen in unsern Gottesdiensten nicht einfach Moderatoren wie an einer Fernseh-Talkshow, sondern Menschen, die das Evangelium verständlich verkündigen können und auch berührende Momente möglich machen. Ein Gottesdienst soll keine Theateraufführung sein, sondern eine Feier zur Ehre Gottes. Zum reformierten Gottesdienst gehört für mich am Anfang auch die trinitarische Formel «Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes» und nicht einfach ein «Hallo». Damit zeigen wir an, dass nicht der Mensch der Nabel des Weltgeschehens ist. So schaffen wir bereits zu Beginn des Gottesdienstes einen Moment des Feierns.
Michael Giger, 40, verheiratet, ein Kind, wohnhaft in Goldach SG. Theologe IGW, Religionspädagoge und Kirchenmusiker B. Mitgründer und Leiter der Basler «RegioPraiseNight» mit vielfältigem Schulungsangebot. Leitete während vier Jahren den Bereich der populären Musik im Sonntagmorgen-Gottesdienst der Gellertkirche Basel. Schrieb 2003 das Minutenprogramm für den Christustag in Basel. Seit 2008 Projektleiter «Gemeindeaufbau durch lebendige Gottesdienste» der St. Galler Kantonalkirche. Mitglied des Leitungsteams des kantonalen Singtages. Seine aktuelle Tätigkeit: Projektleiter «Gemeindeaufbau durch lebendige Gottesdienste» der St.Galler Kantonalkirche. Giger berät und begleitet Kirchgemeinden und Behörden in Fragen innovativer Organisationsentwicklung mit dem Fokus auf Gottesdienste.
Datum: 15.11.2010
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz