Wie Körper und Psyche aufeinander reagieren
«Heute weiss man, dass Körper und Seele sich gegenseitig beeinflussen und Krankheit in beiden Systemen ihre Ursache haben kann», führte Dr. Hanne Leggemann aus. «Einflüsse verschiedener Herkunft können Reaktionen hervorrufen, seien diese psychischer oder somatischer Art.» So kann zum Beispiel eine Kündigung zu einer depressiven Reaktion führen, aber auch die Unterfunktion der Schilddrüse. Im ersten Fall kann durch eine Psychotherapie das Selbstwertgefühl wieder gesteigert werden. Im zweiten verschwinden Antriebslosigkeit und Traurigkeit, wenn der Hormonspiegel dank Medikamenten auf ein normales Niveau gehoben wird. Zudem könne ein wertschätzendes, förderndes soziales Umfeld Krankheit verhindern oder begünstigen.
Bio-psycho-sozial-spirituelles Krankheitsmodell
Die Nuklearmedizinerin Hanne Leggemann hat in Deutschland eine fünfjährige Facharztausbildung in psychosomatischen Kliniken absolviert und in der Schweiz den Fähigkeitsausweis erhalten. Über drei Jahre war sie dann als Spitalsärztin in der Klinik SGM (Stiftung für ganzheitliche Medizin) Langenthal tätig, bevor sie 2014 eine Praxis in Zürich eröffnete. «Es ist unbestritten, dass Spiritualität für viele Menschen sehr wichtig ist», hielt sie fest. «Ich bin in dieser Hinsicht für den Patienten neutral, die weisse Wand, auf die er das projizieren kann, was er glaubt.»
Durch das Bewusstmachen der Überzeugungen, die bisher sein Leben mitgestaltet haben, ermöglicht sie ihrem Gegenüber zu erkennen, was seinen Leidensdruck verursacht. Daraus lassen sich dann Einsichten ableiten, die zu anderen Handlungsstrategien führen. Natürlich muss zunächst auch nach körperlichen Ursachen gesucht werden, betont Leggemann. Die Konsultation des Hausarztes sei daher der erste Schritt. Er kann zur Psychotherapie überweisen, wenn er sie für notwendig erachtet.
Vertrauensbasis muss da sein
«Wenn kein Vertrauen besteht, suchen Sie jemand anderen», ermutigt sie. Als psychotherapeutisch tätige Ärztin nehme sie sich viel Zeit für eine gründliche Anamnese. «In der Familiengeschichte finden sich manchmal schon Gründe für ein Krankheitsbild», führt sie aus. «Die Psychosomatik kümmert sich durch ihre interdisziplinäre Sichtweise um die Ursache, nicht nur um die Symptome.» Zudem kennen Ärzte körperliche Krankheitsbilder und sind daher eher geeignet, diese auszuschliessen oder sie von seelischen oder psychischen Ursachen abzugrenzen.
Viele Angstpatienten
Die häufigsten psychischen Erkrankungen seien Angststörungen, gefolgt von Sucht und Depression. Doch auch diese seien oft heilbar, ebenso Panikattacken. «Kein Mensch kann Angst länger als zehn Minuten empfinden», hält sie fest. Mit Begleitung könne es gelingen, Ängste durchzustehen. «Auch wenn während der Attacke noch stärker angstauslösende Symptome verspürt werden – die Angst selbst führt nicht zum Tod.» Zu erleben, dass sie von selber vergeht, helfe den Betroffenen, ihre Handlungsfähigkeit wieder zu erlangen.
Auch hier müsse zuerst abgeklärt werden, ob Symptome eine körperliche Ursache haben, bevor eine Psychotherapie begonnen wird. Dazu gelte: «Eine Behandlung hängt immer von der Bereitschaft des Betroffenen ab.» Er bestimme, in welchem Tempo er Schritte gehen kann, der Therapeut finde die Methode, die diesem Menschen am besten hilft.
Notfalldienste nutzen
Psychotherapie und Seelsorge könnten sich ergänzen, waren sich die Gäste im Austausch nach dem Referat einig. Manchmal helfe bereits das offene Ohr und Herz oder fürbittendes Gebet. Ein anderes Mal sei es wichtig, sein Gegenüber aufzufordern, eine Fachperson aufzusuchen. Darauf angesprochen betonte Hanne Leggemann die Notwendigkeit, dass sowohl Laien wie auch professionell Seelsorgende die Grenzen ihrer Beratungsmöglichkeiten kennen. Es gebe sowohl ärztliche wie auch psychiatrische Notdienste, die 24 Stunden im Einsatz seien. Für sie ist es unabdingbar, dass immer zuerst körperliche Ursachen einer Störung abgeklärt und entsprechend behandelt werden. «Wo Psychotherapie nötig ist, hilft keine Seelsorge. Gleich wie Psychotherapie nicht hilft, wenn Hormone zum Ausgleich der Schilddrüsenunterfunktion nötig sind», erklärte sie.
Eine Teilnehmerin stellte fest, dass es an Fachpersonen in den Bereichen Psychotherapie und Psychiatrie mangle. Doch Freundinnen oder Seelsorger könnten einer Person in Not beistehen, so zum Beispiel nach einem Todesfall. Eine Mutter erzählte, sie höre ihrer erwachsenen Tochter oft einfach zu. «Nach einer guten Stunde hat sie jeweils selbst geklärt, was sie so beschäftigt.» Die Tischrunde erkannte aber: Für Helfende ist es wichtig, die eigenen Grenzen zu beachten und sich allenfalls Unterstützung zu holen.
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Datum: 02.03.2023
Autor:
Mirjam Fisch-Köhler
Quelle:
Livenet