Awumbuk

Das Leeregefühl nach dem Besuch

Eben noch war über die Feiertage die Bude voll. Die ganze Familie war beisammen. Das war zwar nicht stressfrei, aber irgendwie auch schön. Man rückt zusammen. Man isst, trinkt, spielt. Aber irgendwann war es Zeit zum Gehen. Und nachdem der letzte die Tür hinter sich zugezogen hat, ist es still im Haus. Es herrschen Erleichterung und Enttäuschung – oder wie es das Volk der Baining
Nach dem Weihnachtsfest kann manchmal eine seltsame Leere zurückbleiben.(Symbolbild)
Tiffany Watt Smith

auf Papua-Neuguinea ausdrücken würde: Awumbuk.

Jeder kennt die Situation. Nach einer Zeit voller Menschen und Begegnungen, nach jedem Besuch folgt eine gewisse Leere. Manchmal überwiegt bei diesem Gefühl die Erleichterung: «Gut, ich brauche jetzt auch Ruhe.» Manchmal herrscht Enttäuschung vor: «Schade, jetzt bin ich / sind wir wieder allein.» Einen besonderen Begriff gibt es dafür bei uns nicht. Ganz anders beim Volk der Baining. Sie leben auf Papua-Neuguinea, einer Inselgruppe nördlich von Australien, und nennen dieses Gefühl Awumbuk.

Awumbuk

Die Baining sind davon überzeugt, dass jeder Besucher eine Art von Schwere zurücklässt, damit er unbelastet weiterreisen kann. Dieses Schweregefühl der Gäste hängt quasi im Haus fest. Es bewirkt ein Gefühl der Trägheit und hindert die Konzentration. Die Gastgeber können sich nur schwer ihren alltäglichen Arbeiten in Haus und Feld zuwenden. Dieser Zustand dauert um die drei Tage. Als Gegenmittel füllen die Baining deshalb eine Schale mit Wasser und lassen sie offenstehen. In der ersten Nacht «bindet» das Wasser all das, was noch im Raum steht und absorbiert es. Wenn die Gastgeber am nächsten Morgen aufstehen, nehmen sie die Schüssel, leeren sie aus – und das Leben kann normal weiterlaufen. Die Baining berichten, dass diese Zeremonie noch nie fehlgeschlagen wäre.

Mehr Gefühle als man Worte hat

Ist das irgendein Hokuspokus? Was hat solch eine seltsame Zeremonie vom anderen Ende der Welt mit uns zu tun? Zunächst einmal vielleicht nur, dass ein Gefühl völlig ernstzunehmen ist, auch wenn wir kein Wort dafür haben. Und dann die Beobachtung, dass wir so etwas auch kennen. Da geht jemand und hinterlässt im wahrsten Sinne «dicke Luft», also kein aufdringliches Deo, sondern eine Atmosphäre, die man erst einmal klären muss, zum Beispiel indem man das Fenster aufreisst und gründlich durchlüftet. Oder es geht eine Gruppe, mit der man sich wunderbar verstanden hat, aber irgendwie ist klar, dass man sich in dieser Besetzung nicht wiedersehen wird. Offensichtlich helfen Rituale dabei, solche Gefühle zu verarbeiten.

Überraschenderweise ist das sogar biblisch. Als Jesus seine Jünger über Land schickte, um das Evangelium zu verkünden, war ihm klar, dass sie nicht jeder freundlich aufnehmen würde. So half er ihnen, mit Ablehnung umzugehen, indem er ihnen als Ritual empfahl: «Und wo man euch nicht aufnimmt und euch nicht hört, da geht hinaus und schüttelt den Staub von euren Füssen, ihnen zum Zeugnis» (Markus-Evangelium. Kapitel 6, Vers 11).

Ein bisschen Wissenschaft

Das Wort Awumbuk ist nicht zufällig in Europa bekannt geworden. Vielmehr hat die britische Kulturwissenschaftlerin Tiffany Watt Smith den Begriff «importiert». Sie ärgerte sich darüber, dass im Zuge der Hirnforschung in den populären Medien der Eindruck entstand, die Gefühlswelt des Menschen sei entschlüsselt. Man könne uns per Gehirnscan beim Fühlen und Denken zuschauen. Dabei erzeugt ein Blick in die Amygdala und auf biochemische Vorgänge allein «ein falsches Bild davon […], was ein Gefühl wirklich ist» (Smith). Für das «Centre of the History of the Emotions» in London forscht sie über Emotionen. Und sie zeigt auf, dass es mehr gibt als sechs oder acht verschiedene Empfindungen, dass unsere Empfindungen auch mit unserer Kultur verwoben sind, aber auch mit unserer Sprache oder unseren religiösen Überzeugungen zusammenhängen.

Für «Das Buch der Gefühle» machte Smith sich weltweit auf die Suche nach besonderen Emotionen. Und sie wurde fündig. So gibt es in Japan ein eigenes Wort für das Unbehagen, wenn man jemandem zu stark verpflichtet ist: Oime. Die australischen Aborigines haben 15 Begriffe für Angst. Die Inuit kennen ein eigenes Wort für die unruhige Erwartungshaltung, bevor Besuch kommt: Iktsuarpok. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es übrigens solche Begriffe: Torschlusspanik oder Wanderlust zum Beispiel. Aber besonders schön ist Awumbuk. Es macht unsere Wohnung nach den Feiertagen nicht lebendiger, aber es hilft uns zu verstehen, dass dieses Gefühl völlig normal ist – selbst wenn wir das Wort dafür nicht verwenden und keine Schüssel mit Wasser aufstellen.

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Datum: 30.12.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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