Gunnar Engel: Ansporn zur Aktion
Je dunkler es wurde, umso mehr Fenster waren in Kerzenschein getaucht. In jedem dritten oder vierten Haus standen sie in den der Strasse zugewandten Fenstern. Mal eine einzelne Kerze, manchmal auch mehrere. Ich fuhr mit angezogenen Schultern die Strassen entlang. Der Wind war zwar kälter geworden, aber ich spürte dennoch am ganzen Körper das wärmende Kribbeln. Es war beinahe, als würde die Hoffnung neu in mir aufsteigen. Ich musste unweigerlich an den Satz der beiden Jünger kurz nach Ostern auf dem Weg nach Emmaus denken: «War es uns nicht seltsam warm ums Herz, als er unterwegs mit uns sprach und uns die Schrift auslegte?» (Lukas Kapitel 24, Vers 32)
«Ich neige zu Hoffnungslosigkeit»
Angefangen hat es mit der Suche nach Hoffnung und einem Lautsprecher. Und ganz ehrlich: Ein halbes Jahr zuvor hätte ich dich ungläubig angeschaut, wenn du mir gesagt hättest, dass ein Golfcaddy mit Elektromotor und eine Lautsprecherbox einmal zu den wichtigsten Utensilien für meine Verkündigung als Pastor werden würden.
Eine Sache muss man dazu wissen: Ich neige zu Hoffnungslosigkeit. Vielleicht ist es meine nordische Mentalität oder unsere ständige Dunkelheit kurz vor dem Polarkreis. Nicht selten finde ich mich in einem Strom aus negativen Gedanken wieder. Es fühlt sich an, als hätte jemand stählerne Ketten um meinen Brustkorb gelegt, die jede Bewegung unmöglich machten.
Vielleicht überrascht dieser Satz von einem Pastor, der oft darüber spricht, dass wir das Privileg haben, mit dem zu leben, der die Hoffnung selbst ist. Aber so ist es mit den Gefühlen: Wir haben sie nicht immer unter Kontrolle. Schon gar nicht, wenn sich um uns herum alles verändert.
Corona-Krise hat alles lahmgelegt
Eine der grossen Herausforderungen unserer Tage ist es, in einer hoffnungslos zerbrochenen Welt mit Hoffnung zu leben. Jeder Mensch, dem ich in diesen Tagen begegne, hadert auf die eine oder andere Art mit dieser Aufgabe. Wenn ich morgens in den Spiegel gucke, sehe ich einen Menschen, der vor dieser Herausforderung steht.
In den letzten Wochen habe ich diese Hoffnungslosigkeit deutlicher gespürt als sonst. Verdammt zum Stillsitzen und Abwarten wusste ich nicht allzu viel mit mir anzufangen. Auf gewisse Art merkte ich da erst, dass die Hoffnung fehlte. Zuvor hatte ich alles so straff durchorganisiert, dass ich mich einfach nur an meinen Plan zu halten brauchte. Hoffnung war für mich lange Zeit nicht greifbar. Es war ein Nebenthema, weil vieles einfach so funktionierte.
Aber von einem Tag auf den anderen funktionierte kein Plan mehr. Die Corona-Krise hatte alles lahmgelegt. Um mich herum suchten die Menschen nach Hoffnung. Auch für mich kamen jeden Tag neue Fragen hinzu – vor allem: Wie können wir als Gemeinde gemeinsam durch diese Zeit gehen? Und bei allen Fragen und Unsicherheiten wurde Hoffnung zu meiner Antwort.
Vergleich mit Martin Luther
Martin Luther sah sich 1516 einer ähnlichen Welle von Angst und Hoffnungslosigkeit gegenüber. Nach einigen Jahren der Ruhe traten in Wittenberg wieder Fälle der Pest auf. Luther schrieb daraufhin einen Brief an seinen Freund und Professorenkollegen Johann Lange. Es sind Worte, die mich jedes Mal aufs Neue faszinieren:
«Die Pest bei uns rafft höchstens (doch noch nicht an jedem Tage) drei oder zwei hinweg. Aber der Schmied, unser Nachbar gegenüber, hat heute einen Sohn begraben, der gestern noch gesund war; der andere liegt angesteckt darnieder. Was soll ich sagen? Sie ist da und beginnt gar rau und plötzlich, besonders bei jüngeren Leuten. Und Du rätst mir […] zur Flucht! Wohin soll ich fliehen? Ich hoffe, dass die Welt nicht zusammenstürzen wird, wenn Bruder Martin stürzt. Die Brüder freilich werde ich bei Ausweitung der Pest in alle Lande zerstreuen. Ich bin hierher gesetzt; aus Gehorsam steht es mir nicht frei zu fliehen […]. Nicht, dass ich den Tod nicht fürchte (denn ich bin nicht der Apostel Paulus, sondern nur jemand, der Vorlesungen über den Apostel Paulus hält). Aber ich hoffe, der Herr wird mich aus meiner Furcht herausreissen.»
Knapp zehn Jahre später erlebt Luther erneut diese Panik in der Stadt. Er schreibt an seinen Freund Georg Spalatin:
«Die Pest hat hier zwar angefangen, aber sie ist recht gnädig. Die Furcht und die Flucht der Leute … davor ist jedoch erstaunlich, so dass ich eine solche Ungeheuerlichkeit des Satans vorher noch nicht gesehen habe. So sehr erschreckt (er die Leute), ja er freut sich, die Herzen so verzagt zu machen, natürlich damit er diese einzigartige Universität zerstreue und verderbe, welche er nicht ohne Ursache vor allen anderen hasst.»
Der grösste Schaden entstand durch die Furcht und Hoffnungslosigkeit der Menschen. Sie flohen aus der Stadt. Luther vertrat einen anderen Standpunkt. Er weigerte sich, zu gehen. Er wollte vielmehr bleiben und den Menschen Hoffnung geben. Er wollte an ihrer Seite sein und für sie sorgen. So verwandelte er sein Haus in ein provisorisches Krankenhaus. Denn er war sich sicher:
«Christus aber ist da, damit wir nicht allein sind. Er wird auch in uns triumphieren über die alte Schlange, den Mörder und Urheber der Sünde, wie sehr er auch immer seine Ferse stechen mag (1. Mose Kapitel 3, Vers 15). Betet für uns und gehabt Euch wohl.»
Cholera-Ausbruch in London
Das ist Hoffnung in Aktion! Und mit dieser Einstellung war Luther nicht der Einzige. Die Geschichte ist voll mit Christen, die in den schweren Momenten ihrer Zeit mit Vertrauen und Mut ein Zeichen der Hoffnung setzten. Dionysius von Alexandria berichtet, dass während der cyprianischen Pest im dritten Jahrhundert in Rom bis zu 5'000 Menschen am Tag starben, es aber gerade die Christen waren, die mit aufopfernder Nächstenliebe an der Seite der Menschen waren und Hoffnung verbreiteten.
In den 1850er Jahren war London mit mehr als zwei Millionen Einwohnern die mächtigste und wohlhabendste Stadt der Welt. Ein Cholera-Ausbruch im Jahr 1854 versetzte die Londoner in Angst und Schrecken. Charles Spurgeon, damals erst 20 Jahre alt, kam in die Hauptstadt, um Pastor der New Park Street Chapel zu werden. Er blickte auf diese Seuche als eine Zeit des Lernens zurück, sowohl für sich selbst als auch für die Stadt. Selten waren die Menschen so offen für Gottes Wirken und das Evangelium. Durch alle Jahrhunderte hindurch haben diese Menschen in Zeiten der Not Mut bewiesen und Hoffnung verbreitet. Das spornt mich an.
Es kommt jemand zu uns, auch wenn Distanz angesagt ist
Ich glaube, dass wir immer wieder neu herausgefordert sind, in hoffnungslosen Situationen den Weg zu einer lebendigen und aktiven Hoffnung zu zeigen. Mich hat Gott auf jeden Fall herausgefordert. Je weiter ich mich in die Frage vertiefte, wie ich Hoffnung verbreiten konnte, umso mehr nahm meine eigene Hoffnung zu. Ich lieh mir einen Lautsprecher und einen Golfcaddy. So ausgerüstet fuhr ich an einem Freitagabend durch unseren Ort. Ich hielt an vielen Strassenecken, spielte über den Lautsprecher Glockengeläut ab und betete mit den Menschen, die an die Türen oder Fenster kamen.
Die Menschen sollten sehen: Es kommt jemand zu uns, auch wenn Distanz angesagt ist. Wenn man nicht zur Kirche gehen kann, kommt die Kirche zu den Menschen. Selbst wenn sich alles andere gerade verändert, Gott ist noch immer der Gleiche. Die Hoffnung kommt in die Strassen.
Hoffnung in Aktion. In unserem kleinen Ort nahe der dänischen Grenze nahm das schnell Gestalt an. Jeden Freitagabend war ich von nun an mehrere Stunden unterwegs und fuhr durch die Strassen. Wir feierten sogar eine mobile Osternacht, bei der die Anwohner Kerzen in ihre Fenster stellten und wir gemeinsam den Weg von Karfreitag zu Ostersonntag feierten. Von der Dunkelheit zum Licht, vom Tod zum Leben, von der Mutlosigkeit zur Hoffnung.
Hoffnungslosigkeit in Zeiten von Corona
Die Hoffnungslosigkeit in Zeiten des Coronavirus zeigt uns – ungeschönt, schmerzhaft –, dass nichts auf dieser Welt die Sicherheit und Zufriedenheit gibt, nach der wir uns sehnen. Diese globale Pandemie nimmt uns die Bewegungsfreiheit, unsere finanzielle Sicherheit und unsere persönlichen Beziehungen. Sie nimmt uns unseren Alltag und unseren Komfort. Und am Ende nimmt sie vielleicht auch unser Leben.
Ich habe lange darüber gegrübelt, was Gott mit dem Coronavirus zu tun hat. Und ich sage es ehrlich: Ich habe keine abschliessende Antwort. Gott tut ständig Tausende Dinge in meinem Leben und ich bekomme vielleicht drei davon mit. Ich habe allerdings gemerkt, wie ich in diesen Wochen durch neu gefundene Kreativität und Begegnungen mit Menschen aus unserem Ort im Glauben gewachsen bin. Mehr als nur einmal bin ich über diesen Vers im Römerbrief gestolpert: «Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung.» (Römer Kapitel 5, Verse 3-4; LUT)
Ansteckende Hoffnung
Das Virus um uns herum ist ansteckend. Ich erlebe es in jeder Zeitung, an jedem Gartenzaun, bei jeder Trauerfeier in diesen Tagen, wenn wir im kleinen Kreis Abschied nehmen müssen.
Ich hoffe und bete allerdings, dass die Hoffnung der Menschen in diesen Tagen noch ansteckender ist. Ich träume davon, dass wir in diesen Tagen das Vertrauen auf Gott neu erleben können. Ich hoffe, dass wir in dieser Zeit von der Bedrängnis mit Geduld zu Bewährung und Hoffnung gehen. In vielen kleinen Momenten habe ich genau das in den letzten Wochen erlebt.
Meine Hoffnung ist es, dass durch diese Zeit möglichst viele Menschen aufgerüttelt werden. Hoffnung wurde für mich als aktive Hoffnung sichtbar. Ich wurde veranlasst, Selbstmitleid und Angst hinter mir zu lassen, um mit Liebe zu reagieren.
Jedes Mal, wenn ich mit dem Hoffnungsmobil meine Runden drehe und wenigstens für einen Moment Hoffnung und Mut auf den Gesichtern der Menschen sehe, weiss ich, dass ich in dieser Zeit am richtigen Ort bin.
Zur Person
Gunnar Engel, Pastor der lutherischen Kirchengemeinde Wanderup, Ehemann von Anni und Vater von Titus, hofft auf eine möglichst lange Grillsaison
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Datum: 09.08.2020
Autor: Gunnar Engel
Quelle: Buch «Hoffnung – Zuversicht in Zeiten von Corona»