Studie: Flüchtlinge wollen Trennung von Staat und Religion
Die Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft hat Flüchtlinge in Berlin zu ihrem Demokratieverständnis und ihrer Integrationsbereitschaft befragt. Positiv ist, dass die Mehrheit der Flüchtlinge eine grosse Bereitschaft zur Integration zeigt. In der Studie, die im Juni und Juli 2016 durchgeführt wurde, ging es auch um die Rolle der Religion.
Die grosse Mehrheit der Flüchtlinge fordert eine klare Trennung von Staat und Religion. Sie bekennt sich auch ausdrücklich zur Demokratie. Das Wertebild der Flüchtlinge ähnelt in zentralen politischen Teilen am ehesten dem der AfD-Anhänger und anderer rechtspopulistischer Bewegungen, heisst es in der Studie. Viele Flüchtlinge haben von der feindseligen Haltung der AfD gehört. Die demokratischen Parteien Deutschlands bilden dagegen in ihren Augen einen kaum differenzierten Block.
Religion ist Privatsache
Die meisten Flüchtlinge sind offen dafür, Deutschland als neue Heimat anzunehmen. Sie wollen in Sprache und Bildung investieren und interessieren sich für die deutsche Kultur und Kunst. Für Konflikte können aus Sicht der Studie die Haltung der Flüchtlinge zu ausserehelichem Sex, interreligiösen Ehen oder zur Homosexualität gelten.
84 Prozent der Befragten stimmen einer freien Meinungsäusserung zu, aber nur 38 Prozent finden, dass Künstler sich über Politiker lustig machen dürfen. 87 Prozent der Flüchtlinge befürworten die Trennung von Staat und Religion und erklären Religion zur Privatsache. Jeder Fünfte findet, dass die Heirat von Christen und Muslimen verboten sein soll. Ein Religionswechsel wäre für 52 Prozent der Umfrageteilnehmer kein Problem.
Merkel: Heldin der Flüchtlinge
Die Sexualmoral der Flüchtlinge erscheint im Vergleich zu jener der Deutschen prüde. 48 Prozent der Studienteilnehmer stimmen der Aussage «Sex vor der Ehe ist eine Sünde und sollte bestraft werden» voll zu. Fast jeder Fünfte möchte nicht neben einem unverheirateten deutschen Paar wohnen. Für fast jeden Vierten würde eine gemischte Wohngemeinschaft ein Problem darstellen. 43 Prozent der Befragten würden ein schwules Paar ablehnen.
86 Prozent finden, dass die Deutschen freundlich zu Flüchtlingen sind. Drei Viertel berichten, dass sie ausserhalb ihrer Flüchtlingsunterkunft Kontakte zu Deutschen haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist für viele Flüchtlinge noch eine Heldin. 84 Prozent von ihnen haben eine positive Einstellung zur Kanzlerin. Deutlich dahinter rangieren die Kirchen in Deutschland: 36 Prozent der Befragten sagen, sie haben eine postitive Haltung gegenüber der Kirche, 3 Prozent eine ablehnende Haltung und 61 Prozent gaben «Ich weiss nicht» an.
«Grund zum Optimismus»
Bei den Parteien liegt die CDU (22 Prozent) an der Spitzenposition der Parteien, denen die Flüchtlinge positiv gegenüberstehen, vor der SPD mit 15 Prozent. Auf dem letzten Rang ist hier die AfD (6 Prozent) zu finden. 15 Prozent stehen der AfD ablehnend gegenüber, 10 Prozent der SPD und 4 Prozent der CDU. Die übrigen Befragten haben dazu keine Meinung. Für die Wissenschaftler der Studie ist die Offenheit und Bereitschaft der grossen Mehrheit der Flüchtlinge zur Investition in Sprache und Bildung Grund zum Optimismus.
Die Umfrageteilnehmer waren zu 79 Prozent Sunniten und zu 13 Prozent Schiiten oder andere Muslime. Vier Prozent der Befragten waren Christen, 0,5 Prozent Juden sowie 3 Prozent Atheisten oder hatten eine andere Religion. Befragt wurden alle Bewohner der jeweiligen Unterkünfte über 16 Jahren, die mindestens eine der Projektsprachen Arabisch, Farsi, Englisch oder Deutsch ausreichend beherrschten. Es wurden rund 1000 Fragebögen verteilt, 445 davon kamen beantwortet zurück.
Kommentar
Zwei Dinge fallen – neben hoffnungsvollen Anzeichen - auf: Zum einen die Ironie, dass das «Wertebild» der Flüchtlinge am ehesten dem der rechtskonservativen AfD entspricht, die ihnen ja kritisch gegenübersteht. Beide vertreten Moralvorstellungen, die heute als «konservativ» bezeichnet werden – eigentlich wäre hier gemeinsamer Boden. Oder wird eine solche konservative Moral in die AfD hineinprojiziert?
Die andere Frage: Warum vertreten Muslime, die ja einer Religion anhängen, die gleichzeitig eine Gesellschaftsform darstellt, die Forderung nach Trennung von Religion und Politik? Haben sie die unheilvollen Folgen der Vermengung von beidem zu sehr am eigenen Leib erlebt? Das wäre die positive Deutung. Tatsache bleibt, dass diejenigen, die aus dem Islam stammen, einen «Glauben» mitbringen, der viel mehr als eine private Religion darstellt und als gesellschaftlicher Gesamtentwurf auch die politische Dimesion einschliesst. Es ist zu hoffen, dass hier der Spagat gelingt.
Integration in ein westliches Land bedeutet eben auch Integration in liberale Wertvorstellungen und Einübung und Verinnerlichung von Toleranz. Hier liegt eine Hauptaufgabe der Integration, die wahrscheinlich Generationen benötigt.
Webseite:
Details zur Studie
Zum Thema:
Kinderbuch über Integration: «Angekommen!» – über das Leben nach der Flucht
Verdrängte Kontroverse: Gehört der Islam zur Schweiz?
Podium Uni Luzern: «Pluralismus hat einen Preis»
Datum: 24.08.2016
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: pro Medienmagazin