Publizist zu Corona-Protesten

Verschwörungstheorien oder kastrierte Streitkultur?

Zunehmend wird gegen Corona-Massnahmen protestiert. Bürgerliche Kritiker werden in die rechte Ecke geschoben und radikalisiert. Was macht das mit unserem demokratischen Verständnis? Ein klärender Beitrag des deutsch-ägyptischen Publizisten Hamed Abdel-Samad aus Kairo. 
Hamed Abdel-Samad (Bild: Youtube)

Es kann ja sein, dass der ganze Spuk bald wieder vorbei ist. Trotzdem ist es im Moment enorm wichtig, einen klaren Kopf zu behalten. Während in Deutschland mit recht harten Bandagen gekämpft wird, läuft auch in der Schweiz die Diskussion über Sinn, Unsinn, Berechtigung und Grenzen der Corona-Massnahmen hoch her – laut BLICK ging am letzten Samstag z.B. «eine wüste Sammlung von Verschwörungsideologen, Impfgegnern, Rechten, Linken, Esoterikern, Evangelikalen und besorgten Bürgern» auf die Strasse. Menschen sind wachgeworden und wagen, den Staat kritisch zu hinterfragen – eine heikle Phase, die einen kühlen Kopf verlangt. LIvenet bringt als Diskussionsbeitrag einen Facebook-Post des Politikwissenschaftlers und Publizisten Hamed Abdel-Samad aus Kairo (Überschriften von Livenet): 

Vier Lager in der Gesellschaft

«Genauso wie während der Flüchtlingskrise ist die Gesellschaft heute in vier Lager gespalten: Befürworter, Gleichgültige, vernünftige kritische Stimmen und Verschwörungstheoretiker. Die Unsicherheit der Menschen und die vergiftete Streitkultur führen dazu, dass man gerne nur zwei Lager sieht: Regierungstreue, die den Massnahmen blind folgen und Verschwörungstheoretiker, die durch ihre Proteste die Gesundheit vieler Menschen gefährden. Doch so einfach ist es nicht.

Die Gehorsamen

Viele, die die Massnahmen gutheissen, tun das aus ihrem Verantwortungsbewusstsein heraus und meinen, lieber zu viel Lockdown als zu viele Tote. Hätten wir diese Menschen nicht, wäre wirklich der Chaos ausgebrochen und die Massnahmen wären sinnlos gewesen, wie in anderen Ländern, wo die Lockdown-Massnahmen noch strenger sind als in Deutschland, dennoch halten sich die Menschen dort kaum daran.

Die Lockerungsbefürworter

Auf der anderen Seite will man bei den Lockerungsbefürwortern nur Verschwörungstheoretiker und Impfgegner sehen. Immer mehr vernünftige Menschen, die eine kritische Meinung zum Lockdown haben, halten deshalb ihre Meinung zurück, weil sie oft als herzlos und unverantwortlich angeschrien wurden. Genau wie damals viele Kritiker ihre Meinung zu Flüchtlingspolitik aus Angst vor dem Vorwurf der Unmenschlichkeit zurückhalten mussten.

Die wahre Gefahr für die Demokratie

Deshalb sind die Verschwörungstheoretiker nicht die wirkliche Gefahr für die Demokratie, sondern die Abwesenheit einer gesunden Streitkultur, wo jeder seine Meinung im Rahmen des Gesetzes zum Ausdruck bringen kann. Zwei Sorten von Menschen schaden dieser Streitkultur: Demagogen und Verschwörungstheoretiker, die ohne Argumente schreien und ihre Gegner beschimpfen, aber auch die Guten, die auf berechtigte Kritik mit Moralisieren reagieren. Beide sind Diskursverweigerer. Beide sind Feinde der Demokratie!

Die kritische Mitte ist wichtig

Wir sollten eigentlich froh sein, dass wir viele disziplinierte Menschen im Lande haben, die sich an die Regeln halten. Genauso sollen wir froh sein, dass es immer noch Menschen in diesem Land gibt, die sich kritisch für das Grundgesetz und die Bürgerrechte engagieren. Selbst wenn sie manchmal mit ihrer Einschätzung falsch liegen würden, sind sie wichtig für eine lebendige Demokratie. Sie mit Verschwörungstheoretikern gleichzusetzen, vergrössert das Lager der Verschwörungstheoretiker und schwächt die Demokratie! Oder hat das Moralisieren während der Flüchtlingskrise das rechte Lager etwa geschwächt?»

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Datum: 13.05.2020
Autor: Hamed Abdel-Samad / Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Facebook

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