Aus dem Ruder gelaufen

Wie viel Freiheit braucht die Wirtschaft?

Die Finanzkrise erwuchs aus der Freiheit, die die säkulare Gesellschaft den Akteuren im Bankwesen gewährte – Freiheit, mit der sie nicht umzugehen wussten. Fragt sich, ob sich andere Lebensbereiche ähnlich entwickeln, ohne Crash, aber mit unabsehbaren Folgen.
Nun bezahlen die Steuerzahler und Rentner von morgen.
Warum hat man die Boni-gierigen Spekulanten so lange gewähren lassen?

Wer sich noch nicht daran gewöhnt hat, dass in der Politik und im globalen Business mit Milliarden gerechnet wurde, muss nun zur Kenntnis nehmen, dass Billionen eingesetzt werden. Es ist ungeheuerlich: Die Staaten, die Banken aufkommen und weitgehend frei handeln liessen, damit die Marktwirtschaft mit Geld versorgt und der Wohlstand vermehrt würde, müssen nun diese Unternehmen mit unvorstellbar grossen Summen stützen!

Empörung

Weil es keine andere Stütze mehr gibt, bezahlen nun für das Laissez-faire der letzten 20 Jahre die Steuerzahler und Rentner von morgen. Zorn und Empörung ob der blanken Verantwortungslosigkeit jener, denen der Reichtum der Völker anvertraut war, werden noch lange bittere Frucht tragen. Dass manche Händler zuvor jedes Gehalt, das sie forderten, erhielten und auch bei CS und UBS Millionen-Boni einstrichen, hat den Ruf dieser Institute ruiniert. Dramatisch ist das Versagen angesichts der doppelten Mega-Herausforderung, vor der die Regierungen Europas stehen: Wirtschaft und Gesellschaft auf ökologischere Pfade zu führen und die Sozialsysteme der Überalterung anzupassen. Die Milliarden wären anderswo einzusetzen!

Augenwischerei

Es ist eine Schande für die reichen USA, dass ihr Häusermarkt die Welt in einen Schuldenstrudel hinabreisst. Warum hat man die Boni-gierigen Spekulanten so lange gewähren lassen, dass sie führende Banken an die Wand fuhren? Wenn die Gier als generelle Erklärung zu kurz greift, so ist doch klar: Die Banker und Derivate-Spezialisten hätten sich ohne Wohlwollen und Augenwischerei von Notenbankern à la Greenspan und Politikern (die Steuern sprudelten!) nicht so gebärden können.

Lange Jahre hat man die Mahner belächelt. Einer von ihnen, Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker an der Uni St. Gallen, sagte auf Radio DRS 1, dass die Aufklärung im Finanzbereich noch nachgeholt werden müsse. Das lässt tief blicken.

Peter Ulrichs Plädoyer für eine zivilisierte Marktwirtschaft

Freiheit – und Ideologien

Die Aufklärung hatte ab dem 18. Jahrhundert die Säkularisierung zur Folge: die Loslösung der verschiedenen Lebensbereiche von religiösen Vorgaben. Im politischen Bereich führte die Aufklärung mit der lange ersehnten politischen Freiheit auch Ideologien herauf: Revolutions- und Gewaltkult, Nationalismus und Imperialismus, Rassismus, Marxismus und Sozialismus.

Nach dem Kalten Krieg, dem Ende der Zwangs- und Planwirtschaften, das man als Sieg der freien Wirtschaft feierte, gab man den ‚Marktkräften’ Raum. Nun wird klar, dass wir (so wie früher politischen Heilsversprechen) den Verheissungen von Wachstumspropheten und Spekulanten aufgesessen sind – sie sind auch eine Ideologie, die an der Realität zerschellt.

Abgründige Eigendynamik…

Die Finanzkrise führt zu drängenden Fragen: Entwickelt jeder Bereich des Lebens, der sich in der Säkularisierung vom umfassenden christlichen Wertesystem löste, eine Eigendynamik, welche an den Abgrund führen kann? Verliert die Gesellschaft die Fähigkeit, Schranken zu setzen, nachdem sie den Akteuren (Fachleuten!) Freiheit zugestanden hat?

Anzeichen dafür gibt es, etwa in der Gentherapie: Forscher dürfen fast alles, dürfen jede Limite testen. Sie beanspruchen das Recht, fast jede Grenze zu überschreiten, indem sie für schwere Krankheiten Heilung verheissen.

…auch in der Gesellschaft

Mehr Eigendynamik, kaum zu zügeln, findet sich auch im gesellschaftlichen Leben. Die grosse Freiheit für Liebe und Sex, die 1968 erträumt und knallig-rosa verkündet wurde, ist nicht eingetreten. An die Stelle alter Abhängigkeiten und Ungleichheiten treten neue. Sind Patchwork-Familien freier als traditionelle? Nur eines ist klar: Die Familie ist geschwächt.

In der Wirtschaft haben nicht bloss Finanzhaie moralische Fesseln abgestreift. Rücksichtslosigkeit ohne Mass zeigt sich auch in der Ausfischung der Meere, in der Zerstörung der Regenwälder, im Drogengeschäft – und eklatant im Handel mit Menschen und Organen.

Das Mass aller Dinge

Die Moderne, welche mit der Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zündete, hat wie erwähnt Ideologien und zerstörerischen Bewegungen viel Raum gegeben. Sie streuen uns allerdings fortwährend Sand in die Augen, damit wir die Realität nicht sehen. Die Realität ist wie in vormodernen Zeiten der nach Leben und Fülle, Prestige und Macht gierende Mensch. In sich hat er für sein Streben kein Mass, wie das Wort des Propheten Jeremia (Die Bibel, Jeremia, Kapitel 17, Vers 9) andeutet: „Verschlagener als alles ist das Herz, und unheilbar ist es, wer kann das verstehen?“

Den ruinösen Grössenwahn Einzelner gab es zu allen Zeiten, aber die globale Vernetzung der Finanzmärkte hat nun ganze Horden zum Jonglieren verlockt, mit Summen, von denen unsere Vorfahren nicht träumen konnten. Die alte Maxime des Humanismus „Aller Dinge Mass ist der Mensch“ hat sich nach 1914 und den folgenden Katastrophen ein weiteres Mal erledigt. Wir können mit der Freiheit und Selbstbestimmung, welche die Moderne ausmachen, nicht zum Guten umgehen, nicht ohne Abstürze.

Werte – auch für die Wirtschaft

Es genügt nicht, wenn die Politik nun den Banken unter die Arme greift. Alle Bereiche: Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur müssen wieder auf das menschliche Wertesystem der Bibel, mit dem die moderne Entwicklung Europas und der Welt begann, zurückbezogen werden.

Einige Eckpunkte dieses Wertesystems für die Wirtschaft: Gott gehört letztlich alles; den Menschen ist es als Treuhändern auf Zeit überlassen. Wir sind Gäste auf Erden und Verwalter, nicht Eigentümer! Aus diesem Leben mitnehmen können wir nichts, um Gott am Jüngsten Tag zu beeindrucken. Treue wird belohnt, weil Gott in sich treu ist. Treue in Beziehungen und treuhänderische Sorgfalt im Umgang mit dem anvertrauten Gut.

Sind wir Treuhänder?

Dass diese Grundlagen unserer Kultur der Wirtschaft weitgehend abhanden gekommen sind, ist als gefährliche Folge der Säkularisierung zu werten. Die Stimme der Kirchen (wenn sie denn trefflich Kritik übte) wurde nicht mehr ernst genommen. Die politischen Parteien, die auf den mündigen, emanzipierten Menschen setzen, haben ein Problem mehr – ob sie links oder rechts stehen, ob sie viel oder wenig Regulierung für sinnvoll erachten.

Christen sind herausgefordert darzulegen, wie die Freiheit der Menschen in einem von Gott gesetzten Rahmen gedeihen kann. Als der Eine über Allen garantiert er Freiheit. Die andere Freiheit hat sich einmal mehr als trügerisch, als Gang am Abgrund erwiesen.

Link zum Thema: Globalance: Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK für eine weltumspannende Wirtschaftsethik

Datum: 08.02.2013
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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