Fehlgeleitete Sehnsucht

Wir brauchen keine Erweckung

Wir brauchen keine Erweckung, sondern Mission
Wenn ein Begriff ganz oben auf dem christlichen Wunschzettel steht, ist das oft «Erweckung». Gleichzeitig steht diese Sehnsucht einem realistischen Umgang mit unserer Gesellschaft im Weg. Eine Einordnung von Hauke Burgarth.

Natürlich ist die Aussage «Wir brauchen keine Erweckung!» eine Provokation. Übrigens genau so eine Provokation wie das Singen von «O Herr, giesse Ströme des lebendigen Wassers aus» in einem Gottesdienst mit 40 Besuchern und das Beten darum, dass Gott sich endlich wieder mächtig in Kirchen, Gemeinden und der Gesellschaft zeigen möge. Wenn ich behaupte, dass wir keine Erweckung bräuchten, dann meine ich nicht, dass Christen keinen lebendigen Glauben brauchen oder unsere Gesellschaft keine Veränderung. Im Gegenteil! Dann geht es mir viel mehr darum, diese sehr berechtigten Wünsche ernst zu nehmen und sie nicht hinter einer frommen Vokabel zu verstecken. Vieles an diesen Erweckungsgedanken ist die Sehnsucht nach einer «guten alten Zeit», die es so nie gegeben hat, oder nach einer «guten neuen Zeit», die es so nie geben kann. Beides steht einer echten Wirksamkeit von Christen eher im Wege, als dass es hilfreich ist.

Erweckung – was ist das eigentlich?

Der Begriff Erweckung steht nirgendwo in der Bibel, was nicht bedeutet, dass er falsch wäre. Tatsächlich ist dort immer wieder die Rede von einem wachen Glauben, zum Beispiel in Epheser, Kapitel 5, Vers 14, wo Paulus in Bezug auf die christliche Lebensführung unterstreicht: «Darum heisst es: Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, so wird Christus dich erleuchten!» Noch drastischer geschieht dies in der Offenbarung, Kapitel 3, Vers 1-2, wo einer Gemeinde der Spiegel vorgehalten wird: «Du hast den Namen, dass du lebst, und bist doch tot. Werde wach und stärke das Übrige, das im Begriff steht zu sterben.»

Vergleichbare Aufforderungen und Beschreibungen finden sich bereits im Alten Testament und offensichtlich setzt sich dies bis ins letzte Buch der Bibel fort. Immer wieder geht es darum, zu einem ursprünglichen Leben mit Gott umzukehren. Aufforderungen wie diese richten sich naturgemäss an Menschen, die bereits mit ihm unterwegs sind (oder waren). Sie haben nur wenig gemein mit der landläufigen Auffassung, dass sich bei einer Erweckung Menschenmassen bekehren würden, die vorher noch nie mit Gott in Kontakt waren.

Erweckungsgeschichte

Ein Blick auf heutige Landkarten und in die Geschichte zeigt, dass vergangene Erweckungen bis heute Auswirkungen haben, sei es die pietistische Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, das «Great Awakening» in den USA oder auch die Erweckung in Wales Anfang des 20. Jahrhunderts. Aufbrüche in der Schweiz in der Gegend von Bern hinterliessen ihre Spuren bis heute genauso, wie das in Deutschland im Siegerland, in Sachsen oder auch in Württemberg der Fall war. So unterschiedlich diese Erweckungsbewegungen auch sind, ist ihnen jeweils eines gemeinsam: In den kirchlich geprägten Menschen ihrer Zeit entstand der Wunsch, ihren Glauben wieder echt zu leben, den Heiligen Geist zu erfahren, frei zu werden von Belastungen und die Bibel neu ernst zu nehmen. Es waren Heiligungsbewegungen. Hier kommen wir jetzt zum Punkt, warum wir heute keine Erweckung brauchen. Damals gab es trotz massiver Schwierigkeiten und ebenfalls vorhandener Opposition gegen den Glauben etwas, das ich als «geistlichen Grundwasserspiegel» bezeichnen möchte. In den westlichen Gesellschaften herrschte eine gewisse Volksfrömmigkeit. Auch wenn die Wenigsten ihren Glauben als lebensverändernd erlebten, waren die Kirchen gut besucht und ein religiöses Grundwissen war allgemein vorhanden.

Und heute?

Dieser Zustand hat sich massiv geändert. Sei es durch atheistische Prägung in den neuen Bundesländern Deutschlands, durch Migration aus islamischen Ländern oder einfach durch eine jahrzehntelange Entfremdung dem Glauben gegenüber: Viele Menschen haben heute praktisch keine christliche Sozialisation erfahren. Wo ein von der Bibel oder vom Glauben geprägtes Denken nicht mehr vorhanden ist, kann man «das Übrige, das im Begriff steht zu sterben» (s.o.) auch nicht mehr stärken. Die klassische Erweckung erinnert Christen – wie nominell sie ihren Glauben auch verstehen mögen – an ihre Wurzeln und fordert sie auf, dorthin zurückzukehren. In diesem Zusammenhang sind «Erweckung» und «Busse», also eine Umkehr, legitime und wichtige Begriffe, doch die heutige Wirklichkeit sieht anders aus!

Wer heute in Deutschland oder der Schweiz vom Evangelium spricht, hat Menschen vor sich, die vielleicht schon seit zwei oder drei Generationen keinerlei kirchliche Bindung mehr haben, oder in einem völlig anderen Glaubenskontext aufgewachsen sind. Der Gedanke an eine landesweite Erweckung verkennt diese Realität. Hier geht es nicht mehr um Erweckung, sondern um das, was lange vor den Erneuerungsbestrebungen von Reformation, Pietismus oder charismatischer Erneuerung als «Mission» bezeichnet wurde: Menschen, die nichts oder wenig von Gott wissen, soll dieser Gott attraktiv vorgestellt werden. Dabei ist es nicht egal, ob Christen von «Erweckung» oder «Mission» reden, denn ihre Erwartungen bestimmen ihre Mittel. Wer eingeschlafene Gläubige erwecken will, lädt sie zu feurigen Gottesdiensten ein. Wer Menschen von heute erreichen will, fängt bei Null an, lebt den eigenen Glauben vor und erklärt gleichzeitig wie Paulus den «unbekannten Gott».

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Datum: 02.12.2024
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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