Was Menschen wachsen lässt
Wenn Jesus die Liebe zu Gott und zum Nächsten zum Dreh- und Angelpunkt eines gläubigen Menschen macht (vgl. Matthäus, Kapitel 22, Vers 37), dann gilt das mit Sicherheit auch im Blick auf unsere Beziehungen: Wo Liebe erlebt wird, blühen Menschen auf. Aber was ist mit Liebe eigentlich gemeint? Die vier Dimensionen der Liebe helfen, die eigenen Beziehungen mal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Liebe ist bedingungslose Annahme
Die erste «Liebes»-Erfahrung im Leben eines Menschen ist – oder sollte es wenigstens sein – die bedingungslose Annahme durch Mutter und Vater (Psalm 22, Vers 10). Annahme brauchen wir aber das ganze Leben hindurch wie die Luft zum Atmen. So wie die physische Unterernährung auch Mangelkrankheiten wie massiven Muskelabbau, Hirn- und Organschädigungen, Kleinwuchs und ein geschwächtes Immunsystem auslöst, kann uns auch der Mangel an Annahme auf verschiedenen Ebenen an der Entfaltung hindern: Bindungs- und Beziehungsunsicherheit, Mühe mit authentischer Intimität, Angst vor Nähe, Rückzug bei Beziehungsunsicherheiten, mangelnde Konfliktfähigkeit.
Aber wir brauchen nicht Gefangene unserer defizitären Vergangenheit zu bleiben. Wir vertrauen auf zwei Quellen der heilenden Kraft der Liebe: In der umarmenden Annahme des Vaters, wie sie auch der heimkehrende Sohn erleben durfte (vgl. Lukas, Kapitel 15, Vers 20), liegen Heilung und Wiederherstellung. Diese Ankunft in den Armen Gottes bildet den Ausgangspunkt zu einem veränderten Leben. Hier haben die Festfreude und wohl auch die Lebensfreude ihren Anfang. Aber auch die zwischenmenschliche Gemeinschaft kann heilen. Die christliche Gemeinde darf und soll Familie sein (vgl. Matthäus, Kapitel 12, Verse 47-50), wo unter Brüdern, Schwestern und geistlichen Eltern diese Annahme konkret erlebt wird. Wo Menschen sich zuerst mal bedingungslos geliebt und angenommen fühlen, kann Überraschendes passieren.
Liebe ist Mut zur Wahrheit
Wer liebt, will und muss auch ehrlich sein. Die liebende Wahrheit hat Jesus das Leben gekostet: Er ist am Kreuz den Tod für uns Sünder gestorben. Wer liebt, ohne die Konfrontation zu wagen, will eine Erlösung ohne das Kreuz. Liebende Wahrheit schliesst den Mut ein, das Krumme und Kranke im eigenen Leben und im Leben des anderen nicht einfach «stehen zu lassen»: Weil wir vertrauen, dass Jesus heute noch vergibt, hilft und verändert, sprechen wir auch das Schwierige und Schmerzhafte an (1. Thessalonicher, Kapitel 5, Vers 11).
Aber nur wer liebt, darf dem anderen als ehrlicher Spiegel dienen. Wer wirklich liebt, will und kann dem anderen seine ehrliche Wahrnehmung nicht verschweigen. Liebende Gemeinschaft ist darum immer auch der Ort, wo mir Wahrheit begegnet. Wichtig zu wissen, dass allein Jesus «die» Wahrheit (vgl. Johannes, Kapitel 14, Vers 6) ist. Gut zu wissen, dass wir einander nur «meine» Wahrheit und «meine» Wahrnehmung schenken können. Aber immerhin: Wenn wir einander lieben, wird in unserer Wahrheit etwas von der Wahrheit Jesu sichtbar.
Liebe führt in die Freiheit
Wer ehrlich und selbstlos liebt, will dem anderen helfen, seine in ihm schlummernde Berufung und Farbe zu entdecken und zur Entfaltung zu bringen. Was verborgen ist, darf sichtbar werden. Darum können Wahrheit und Freiheit nicht voneinander getrennt werden (Johannes, Kapitel 8, Vers 32). Jeder ist ein Original, und dieses Wissen ist wiederum Ausdruck der Ehrfurcht vor Gott, der mit jedem von uns einen einzigartigen Weg geht.
Christliche Freiheit meint natürlich nie, dass wir einfach tun und lassen, wie es uns gerade so dünkt. Unser Ziel soll immer sein, dass «Christus in euch Gestalt annimmt» (Galater, Kapitel 4, Vers 19). Hier hat Freiheit ihr eigentliches Fundament: in der Ausrichtung auf Jesus! Christliche Freiheit darf nicht mit einer oberflächlichen «Selbstverwirklichung» verwechselt werden: Freiheit macht Christus in uns sichtbar, ohne dass wir dabei unsere Individualität verlieren.
Liebe macht verbindlich
Ohne Verbindlichkeit ufert Freiheit aus: Wer liebt, setzt sich und seiner Freiheit Grenzen. Darum sagt die Bibel auch: «Denn die Liebe zu Gott besteht darin, dass wir seine Gebote halten» (1. Johannes, Kapitel 5, Vers 3). Aber es geht im Tiefsten nicht um eine Bindung an Gebote oder Verbote, sondern um eine Bindung an Jesus: Weil ich mich durch den Glauben an Jesus gebunden habe, nehme ich auch die Worte von Jesus und der Bibel ernst.
Diese beziehungsmässige Bindung an Jesus ist auch das Vorbild unserer zwischenmenschlichen Verbindlichkeit: Wer Jesus liebt, wird auch die Menschen zu lieben beginnen und sich gesund an sie zu binden wagen. Gleichzeitig steht über jeder menschlichen Bindung die Bindung an Jesus, ansonsten werden wir schnell von Menschen abhängig. Wenn die Forderung nach Verbindlichkeit, Unterordnung und Gehorsam aber einfach Teil eines Konzepts von Jüngerschaft ist und nicht Ausdruck von Liebe und Treue, dann werden in einer solchen Gruppe nicht Originale heranreifen, sondern nur Kopien produziert. Annahme, Wahrheit, Freiheit und Verbindlichkeit – diese vier Dimensionen der Liebe machen unsere Beziehungen zu Orten blühenden Lebens. Garantiert.
Datum: 17.11.2013
Autor: Meinrad Schicker
Quelle: BewegungPlus Online