Taizé nach einem Jahr: "Als hätte uns diese Narbe noch gefehlt"

Aus allen Teilen Europas: Jugendliche in Taizé.
Auch im Empfangshäuschen lädt Christus zur Stille ein.
Der Schweizer Roger Schutz gründete 1940 die Communauté de Taizé, um Versöhnung zu fördern.
Wahrzeichen von Taizé: der Glockenturm.
In der Kirche, vor dem Abendgebet.
Abseits aller Betriebsamkeit: Das Dörfchen Taizé liegt in den lieblichen Hügeln des Burgunds.

Am 16. August 2005 wurde Frère Roger, Gründer und Prior der Gemeinschaft von Taizé, in der Versöhnungskirche ermordet. "Wie weiter mit Taizé?" fragte man sich damals. Heute beobachtet sein Nachfolger Frère Alois mit der Bruderschaft mit Freude, dass sich das geistliche Leben auf dem Hügel im Burgund intensiviert hat. Als sei das Attentat auf Frère Roger eine Narbe, aus der neues Leben wachse. – Eine Reportage von Vera Rüttimann.

Durch die Dämmerung eilen Menschen zum Morgengebet. Über das Dorf hinaus erklingt der vertraute Klang des Glockenturms. In der orange ausgeleuchteten Versöhnungskirche sitzen die Leute bereits Schulter an Schulter. Niemand will verpassen, wenn ein Bruder mit dem charakteristischen "Alleluja" von Taizé die morgendliche Andacht eröffnet.

Manche sind beim Gebet heute in Gedanken wohl auch bei jenen Moment, als Frère Roger vor aller Augen hier sein Leben lassen musste. Dort, wo sonst Roger Schutz sass, betet nun sein Nachfolger, Frère Alois. Der gebürtige Deutsche strahlt eine ähnliche Wachsamkeit und Ruhe aus. Auch ihn umgeben während der Andacht Kinder.

Intensive Anteilnahme

Frère Alois empfängt an diesem Nachmittag in einem Vorraum seines Wohnhauses Gäste. Er wirkt neugierig und aufgeräumt. In seinen Augen scheint ein ständiges Staunen über das aufzuleuchten, was um ihn herum seit einem Jahr passiert. Statt zu welken, scheint Taizé zu wachsen. Drei neue Brüder sind nach dem Tod von Frère Roger in die Kommunität eingetreten.

"Frère Roger fehlt uns immer noch. Gleichzeitig sind wir dankbar für die Dynamik, mit der hier alles weitergeht", sagt er. "Auch jetzt im Sommer spüren wir, dass die Jugendlichen mit der gleichen Intensität singen, beten und schweigen. Vielleicht sogar noch intensiver als vorher. Am Abend hört das Singen einfach nicht auf", sagt der Prior.

Es bewahrheite sich jetzt, dass Frère Roger nicht auf sich gezeigt habe, "sondern wie Johannes der Täufer auf Christus und auf die Gegenwart Gottes." Alois Löser bekennt: "Für mich sind seine Fusstapfen zu gross, da passen wir alle Brüder hinein. Alle Brüder treten diese Nachfolge an." Er spüre zudem, dass die Brüder in den vergangenen Monaten noch enger zusammen gerückt seien.

Die Treffen gehen weiter

Im Haus La Morada, dessen Hausdurchgang zu den Wohnungen der Brüder führt, geht es – wie eh und je – zu wie in einem Bienenhaus. Brüder begrüssen einen spanischen Bischof, Helfer liefern gerade eine Ladung druckfrischer "Briefe aus Taizé" in russischer Sprache an.

Eine Gruppe Jugendliche eilt in den Raum, wo Frère Georg gerade über das bevorstehende Europäische Jugendtreffen in Zagreb zu Jahresende informiert. Er muss sich ins Zeug legen, denn über das kirchliche Leben in der kroatischen Stadt, die an der Aussengrenze Europas liegt, wissen die meisten hier wenig. Er diskutiert mit ihnen unter anderem darüber, wie es kommen kann, dass der Glaube dort so lebendig ist und wie die Menschen mit den Wunden der jüngsten Vergangenheit umgehen.

Gleich im Nebenraum beugen sich Jugendliche über eine Landkarte Indiens. Ein weiterer Bruder informiert sie über das bevorstehende Taizé-Treffen in Kalkutta im Oktober. Sie staunen darüber, dass selbst in Indien an vielen Orten monatlich ein Gebet mit Gesängen aus Taizé stattfindet. "Der Pilgerweg des Vertrauens" wird fortgesetzt, er macht an immer neuen, interessanten Orten Station", sagt Frère Georg.

Tag und Nacht

Es ist 23 Uhr und noch immer wird in der Versöhnungskirche gesungen. Ein Bruder, der noch einmal nach dem Rechten schauen will, staunt immer wieder, wie Leute mehrstimmig in die Taizé-Gesänge einstimmen können. Ein nie enden wollendes, vielstimmiges Lied. Wie die Jugendlichen hier friedlich singen, beten und sich leise unterhalten. Er lacht innerlich, wenn er sieht, wie einige ihre Schlafsäcke gleich mitgebracht haben und nun zusammengerollt auf dem Teppichboden liegen. "Das geht so wohl nur hier", sagt er.

Um Mitternacht werden am Hauptgebäude – dort, wo einst ihre Fassaden herausgebrochen wurden – die Läden heruntergerollt. Erst wenn man vom einstigen Hauptschiff nach hinten blickt (die Kirche ist inzwischen dreimal vergrössert worden), wird einem klar, welche Entwicklung Taizé genommen hat. Immer wieder erklingt in dieser Nacht das Lied ”Magnificat anima mea Dominum” (Meine Seele erhebt Gott). Im mystischen Schweigen, Beten und Singen liegt noch immer die Identität von Taizé. Ein Dreiklang, der hier täglich praktiziert wird.

Erschütterung

Frère Wolfgang, in diesen Tagen ein vielgefragter Gesprächspartner, sagt in einer ruhigen Minute: "Im Grunde haben wir nie gezweifelt, dass es in Taizé weiter geht. Andererseits hat es mich doch sehr erstaunt, wie bruchlos wir den Weg weitergegangen sind." Für den gebürtigen Regensburger herrscht hier seit 30 Jahren jede Woche Anfang. "Es ist immer wieder der nächste Jahrgang, der hierher fährt", staunt er selbst. Taizé, gibt er zu, ist für ihn "ein Stück Himmel auf Erden."

Dennoch: Dass hier ein Attentat passieren konnte, das habe viele verstört. Der Taizé-Bruder sagt: "Manche Leute haben danach gedacht, das Paradies von Taizé hat jetzt einen Sprung." Der Mittfünfziger lässt einen staunen, wenn er anmerkt: "Das Ereignis hat diesen Orten jedoch sehr befruchtet. Es ist fast so, als hätte uns diese Erfahrung, diese Narbe, noch gefehlt. Sonst wäre das Leben hier vielleicht auch zu glatt."

Man sei, erläutert Frère Wolfgang weiter, Menschen, die Angehörige verloren haben, nun auf eine neue, andere Art plötzlich ganz nahe. "Es gibt nun niemanden mehr, der nicht nach Taizé kommen kann, weil dieser Ort jetzt auch geprägt ist von einer Erschütterung."

Doch Taizé ist kein Kultort um Frère Roger. Keine Gedenktafel, keine Büste und auch keine Inschrift erinnert auf dem Weg von der Kommunität oben auf dem Hügel hinunter zur alten romanischen Dorfkirche an ihn. Auf dem schlichten Holzkreuz seines Grabs an der Stirnseite der Kirche steht bloss in krakeliger Handschrift "F. Roger". Das Samenkorn, das Roger Schutz einst in die Erde gesetzt hat, scheint nun Früchte zu tragen.

Datum: 16.08.2006
Autor: Vera Rüttimann

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