Der Lichtblick von Smyrna
Smyrna war von Anfang an ein Ort christlichen Martyriums: Vom Gemeinde-Ältesten Polykarp, der um 155 seine Treue zu Jesus auf dem Scheiterhaufen unter Beweis stellte, bis zu den Tausenden armenischen und griechischen Christen, die 1922 von den Türken in ihren Häusern verbrannt, auf den Strassen niedergemetzelt oder ins Meer geworfen wurden.
Jetzt hat Smyrna einen neuen Glaubenszeugen: Den amerikanischen Pfarrer Andrew Brunson. 23 Jahre hatte er an der presbyterianischen Auferstehungskirche (Dirilme Kilisse) gewirkt. Dann wurde ihm und seiner Familie im Oktober 2016 die Aufenthaltserlaubnis entzogen und er selbst in Abschiebungshaft genommen. Diese verlängerte sich zwei Monate lang, bis gegen Brunson Anklage wegen terroristischer Gefährdung der Staatssicherheit erhoben wurde. In einer überfüllten Zelle wartet der Pfarrer seitdem auf seinen Prozess.
Christliche Hochschule
In Smyrna, bzw. Izmir gibt es aber auch ein hoffnungsvolles Signal: Vertreter verschiedener Kirchen konnten Anfang Mai mit einem Kongress zum Urchristentum an die Tradition von Smyrnas «Evangelischer Schule» anknüpfen. Sie war 1922 ebenfalls in Flammen aufgegangen. Die Hochschule galt seit dem 18. Jahrhundert als Beispiel gelungener evangelisch-orthodoxer Zusammenarbeit in der osmanischen Türkei. Sie wurde gegründet, um orthodoxes Leben und Glauben nach dem Evangelium zu erneuern. Zu diesem Zweck stellte sich die «Evangelische Schule» unter den Schutz des englischen Gesandten beim Sultan. Sie zog immer mehr evangelische Professoren an. Ihr Ziel war, reformatorisches Gedankengut in die griechisch-orthodoxe Kirche zu tragen. Die Konferenz war allerdings nur möglich, weil die Stadt nicht von Erdogans AKP, sondern von der christenfreundlicheren Republikanischen Volkspartei (CHP) regiert wird.
Türkischer Soziologe rechnet mögliche Christenzahl hoch
Die Lage der Christen in der Türkei ist nicht rosig. Ihre Zahl würde heute über eine halbe Million betragen, wäre sie nicht in den letzten 95 Jahren von staatlicher Seite systematisch dezimiert worden. Zu diesem Schluss kommt der angesehene türkische Soziologe Ayhan Turhan Aktar von der Istanbuler Bilgi-Universität. Er hat die Zahl der seit 1923 in Istanbul und Umgebung sowie in der Südosttürkei lebenden 200'000 Orthodoxen, Katholiken und «Protestanten» statistisch hochgerechnet. Sie wurden vom Frieden von Lausanne ausdrücklich international geschützt, nachdem zuvor – wie im Fall der armenischen und aramäischen Christen – rund zwei Millionen griechische Orthodoxe und Evangelische vor allem in der asiatischen Türkei getötet oder vertrieben worden waren.
Enteignungen und Deportationen
Tatsächlich beträgt die Zahl der orthodoxen Christen am Bosporus heute höchstens noch 90'000. Neben einer durch Schikanen jeder Art verursachten stetigen Auswanderung macht Professor Aktar dafür vor allem die Enteignungs- und Deportationswelle von 1941-43, das christenfeindliche Septemberpogrom 1955 sowie die Ausweisung von rund 5'000 namhaften Christen im Jahr 1964 verantwortlich.
«Bewölkter Horizont»
Die Studien Aktars wurden am 5. Mai bei einem Runden Tisch an der kirchlichen Schule im Istanbuler Hafenviertel Galata (Karaköy) bekannt. Es sei fast ein Wunder, dass das Christentum in der Türkei überhaupt noch am Leben sei. Der griechisch-orthodoxe Patriarch Bartholomaios I. bezeichnete die neueste Lage unter Erdogan als «bewölkten Horizont».
Zum Thema:
Bürgermeisterin abgesetzt: Erdogan verstärkt Repression gegen Christen
Verkehrte Welt in der Türkei: Hausgemeinden gefährlicher als öffentliche Gemeinden
Verstärkte Islamisierung: Türkei: Schicksal der Christen ungewiss
Datum: 12.05.2017
Autor: Heinz Gstrein / Fritz Imhof
Quelle: Livenet