Auch die Schuldfrage ist kein Tabu
Er steht nicht gerne im medialen Rampenlicht: Pfarrer Markus Giger, Leiter der Zürcher Jugendkirche streetchurch und national bekannter Gefängnisseelsorger. Aber er nahm die Gelegenheit wahr, im idea Spektrum vertieft über seine Arbeit und die Wirkung auf seine Klienten zu reden, auch über Schuld und Vergebung in der Begleitung von Straftätern.
Krisenresistente Begleitung
Für Markus Giger ist klar: «Bei einem jungen Menschen, der schon viele Brüche in seiner Biographie erleben musste, braucht es eine besonders krisenresistente Begleitung auf seinem Glaubensweg.» Er hat darin über 20 Jahre Erfahrung und sagt heute klipp und klar: «Wenn ein junger Straftäter eine selbst verantwortete und eigenständige Beziehung zu Jesus gewinnt, ist dies eine essentielle Voraussetzung, um sich mit seinem eigenen Leben und seinen Mitmenschen versöhnen zu können.» Denn die Versöhnung mit Gott setze einen Heilungsprozess in Gang, der seine eigene Persönlichkeit und sein Umfeld miteinschliesst.
Markus Giger ist sich dennoch bewusst, dass er Ergänzung braucht: «Ich empfinde die Zusammenarbeit mit dem interdisziplinären Team im Massnahmenzentrum als eine der grossen Stärken des Jugendstrafvollzugs.» Er tauscht sich mit ihnen aus, soweit dies das Seelsorgegeheimnis zulässt, «um der komplexen psychosozialen Situation der Straftäter gerecht zu werden.» Er habe aber gegenüber den Strafgegangenen den Vorteil, nicht von der Justiz angestellt zu sein. «Für viele Jugendliche ist es entscheidend, dass sie sich mir als Pfarrer gegenüber frei äussern können, im Wissen um die strenge Wahrung des Seelsorgegeheimnisses.»
Seelsorger müssen sich legitimieren
Dass Pfarrer heute noch in Gefängnissen und Massnahmenzentren arbeiten können, sei aber nicht mehr selbstverständlich, sagt Giger. «Die christlichen Kirchen können nicht einfach auf ihrer Tradition begründet einen Anspruch auf Gefängnisseelsorge ableiten. Sie sind gefordert, ihren Einsatz für die Gefangenen zu begründen und durch ihre Arbeit zu legitimieren.» In der heutigen multireligiösen Situation der Gefängnisse sei es für die Inhaftierten allerdings bedeutungslos, ob ein Seelsorger nun reformiert oder katholisch sei oder gar einer anderen Glaubensrichtung angehöre. Sie wollten einfach «mit einem Menschen auf Augenhöhe ein Gespräch über die belastende Situation führen können». Weil sie aber wüssten, dass sie mit einem «Geistlichen» reden, nutzen viele Jugendliche – «unabhängig von ihrer religiösen Herkunft - die Gelegenheit, mit mir über die grossen Fragen der menschlichen Existenz auszutauschen.»
Die Frage nach der Schuld
Dabei werde auch über die Schuldfrage gesprochen: «Wer unter Umständen 23 Stunden in einer Zelle eingesperrt ist, wer monatelang in einer Therapie mit seiner gescheiterten Existenz und den Folgen für das Opfer konfrontiert wird, ... der stellt sich früher oder später auch die Frage nach der Schuld: Wie kann ich mit dem Wissen weiterleben, dass ich einen Menschen für den Rest seines Lebens gezeichnet habe? ... Was, wenn mein Opfer nicht bereit ist, mir zu vergeben?»
In solchen Situationen könne auch über das Thema Schuld und Vergebung aus der Sicht des Evangeliums gesprochen werden. Denn für solche Menschen sei wichtig: «Was da am Kreuz geschah, das hat mit mir und meinem Scheitern und Versagen, mit meiner Schuld zu tun.»
Pfarrer Markus Giger ist Leiter der Streetchurch in Zürich. Als Gefängnisseelsorger besucht er kriminell gewordene Jugendliche und betreut in der Durchgangsstation Winterthur und dem Massnahmenzentrum Uitikon 90 junge Delinquenten. Unter ihnen war auch der öffentlich bekannt gewordene Jugendstraftäter «Carlos».
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Datum: 17.05.2014
Autor: Fritz Imhof
Quelle: ideaSpektrum Schweiz