Sie kämpft für 3'000 Frauen

«Opferidentifikation ist mangelhaft»

Bis zu 3'000 Frauen in der Schweiz sollen jährlich Opfer des Menschenhandels sein. Um diesem Elend besser begegnen zu können, gründete Irene Hirzel «Act212». Mit dieser Organisation richtet die langjährige Projektleiterin der «Christlichen Ostmission» unter anderem eine Meldestelle ein.
Irene Hirzel
Bundesrätin Simonetta Sommaruga sprach an der Konferenz 2013 zum Thema Menschenhandel.
Nicht zum Verkauf.

Irene Hirzel, wie gross ist das Problem Menschenhandel in der Schweiz und im deutschsprachigen Europa?
Irene Hirzel: Betreffend Menschenhandel muss man von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen. In der Schweiz ist seit Jahren von 1'500 bis 3'000 gehandelten Frauen die Rede. Gemäss dem Jahresbericht von «Fedpol» 2013 sind 4'955 Meldungen wegen Menschenhandel eingegangen. Gemäss «eurostat» wurden 2014 in Europa 9'710 Opfer von Menschenhandel identifiziert. Im «UNODC» 2014 sind von den gehandelten Menschen 49 Prozent Frauen und 33 Prozent Kinder. In Europa werden 66 Prozent der gehandelten Menschen in die Sexsklaverei verkauft. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, global werden je nach Bericht zwischen 21 bis 35 Millionen Opfer geschätzt. In Europa hat der Menschenhandel ein epidemisches Ausmass angenommen, vor allem in der Sexindustrie.

Wie hat sich die Lage in den letzten Jahren verändert?
Sowohl in der Schweiz wie auch in umliegenden Ländern sind die Zahlen markant gestiegen. Leider nimmt die Zahl der Kinder und Jugendlichen zu, vor allem steigen die Zahlen von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel im Sexgewerbe. Wir finden Opfer im Sexgewerbe, gemischt mit legal arbeitenden Prostituierten. Und in der Pornoindustrie, dort werden leider immer mehr Kinder missbraucht.

Was will «Act212»?
«ACT212» sieht sich als Ergänzung der fehlenden Verbindungen zwischen Regierungsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen, Polizei und Behörden sowie der Schweizer Bevölkerung. Um Menschenhandel besser zu bekämpfen, braucht es eine Zusammenarbeit auf breiter Front. In der Schweiz besteht diese Zusammenarbeit einerseits bei den runden Tischen und in der Schweiz-Rumänien-Arbeitsgruppe, die 2012 von Bundesrätin Simonetta Sommaruga gegründet wurde und bei der ich seither mitwirke.

Eine dieser Säulen wird die nationale Meldestelle sein. Beobachtungen, Meldungen oder Fragen können hier deponiert werden, auch anonym. Das Ziel ist, die Opferidentifikation zu steigern. Die Meldestelle koordiniert diese Meldungen und leitet sie den entsprechenden Behörden weiter. Wir sind mit einer Fachgruppe am Aufbau dieser Meldestelle.
Flankierend dazu werden wir Sensibilisierungsmassnahmen und Kampagnen lancieren, wieder in Zusammenarbeit mit verschiedenen Akteuren. Auch für Opfer selber wird es in Zukunft mehr Betreuungsangebote geben; das heisst weitere Schutzwohnungen und auch im Ausland werden wir Partner unterstützen.

Wozu braucht es Acts212 – gibt es nicht bereits genügend Angebote?
In der Schweiz gibt es mittlerweile bessere Angebote, aber noch lange nicht genug. Die Opferidentifikation ist mangelhaft. Es gibt zu wenig spezialisierte Schutzwohnungen. Die Bevölkerung weiss immer noch zu wenig über dieses Thema. Die Meinung, dass alle Prostituierten freiwillig ihre Körper verkaufen und alle Pornodarstellerinnen das gerne und gegen gute Bezahlung machen ist immer noch fest verankert. Als Verein werden wir die sogenannten Push-Pull-Faktoren (Angebot und Nachfrage) thematisieren und natürlich auch, was man dagegen machen kann.

Wie sieht die Arbeitsweise aus?
Wir werden auf allen Ebenen mit Fachleuten zusammenarbeiten. Das heisst, wir suchen die Zusammenarbeit mit der «KSMM», also der Koordinationsstelle Menschenhandel Menschenschmuggel, mit spezialisierten Polizeieinheiten, Migrationsämtern, anderen Organisationen, die in diesem Bereich arbeiten und Politikern. Durch Sensibilisierungsarbeit und Schulungen möchten wir auch die Bevölkerung erreichen.

Was wollen Sie erreichen?
Diese Zusammenarbeit, sowie die Sensibilisierung der Bevölkerung wird ein Umdenken in unserer Gesellschaft zur Folge haben. Ich sage nicht, dass wir Menschenhandel ganz ausrotten können, aber alle sollen verstehen, welche Mechanismen hier spielen und was man dagegen machen kann. Zum Beispiel: Einen Pornofilm anzuschauen, fördert dieses Multimilliardengeschäft, in dem viele junge Menschen und Kinder verheizt werden - und das auf beiden Seiten! Der Menschenhandel und die sexuelle Ausbeutung funktionieren nur, solange die Verschwiegenheit und Anonymität bestehen bleiben. Je mehr die Gesellschaft begreift, welch unvorstellbares Leid hier geschieht, desto mehr wird die Wahrheit über dieses abscheuliche Verbrechen aufgedeckt werden.

Was bedeutet der Name?
«ACT» steht für «agieren, kooperieren, thematisieren» und «212» ist das Datum vom 2.12.49, als an der UNO-Generalversammlung die Konvention zur Unterbindung des Menschhandels und sexueller Ausbeutung verabschiedet wurde. Unser Verein wurde am 2. Dezember gegründet.  

Was ist bisher geschehen?
Ich bin seit 17 Jahren mit diesem Thema beschäftigt, über zehn Jahre habe ich als Gassenarbeiterin unter Prostituierten gearbeitet und war dann sechs Jahre lang als Projektleiterin in der «Christlichen Ostmission» tätig. Ich bin viel gereist und habe viele Leute kennengelernt. In der Schweiz habe ich die Mängel und Bedürfnisse im Bereich Menschenhandel erkannt und bin mit der Leitung der Christlichen Ostmission übereingekommen, dass es «ACT212» brauchen wird. Die Ostmission unterstützt mich dabei grosszügig und wird mir ein wertvoller Partner bleiben.

Zum Thema:

Datum: 03.02.2015
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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