Neue Medien – alte Mythen

Warum der Antisemitismus uns alle bedroht

Antisemitismus ist keine Verschwörungstheorie, denn das wäre eine wissenschaftlich überprüfbare Meinung. Es ist ein Mythos, der Menschen in Angst versetzt und damit ihren Hass schürt. Michael Blume gelingt mit seinem Buch «Warum der Antisemitismus uns alle bedroht» das Kunststück, neutrale Sachlichkeit mit einem engagierten Plädoyer zu verbinden. Denn Antisemitismus ist zwar historisch erklärbar, aber er ist auch überwindbar. Es gibt bereits Bücher zum Thema, aber dieses ist einzigartig!
Antisemitismus
Michael Blume
Buchcover «Warum der Antisemitismus uns alle bedroht»

Wirklich typisch für Michael Blume (42) ist das, was er im Intro seines Buches beschreibt (S. 12). Da zeigte sich bei ihm vor vielen Jahren das diffuse Gefühl, dass «die» schuld seien, die Juden. Blume suchte daraufhin weder geichdenkende Menschen auf noch irgendwelche Claqueure. Er ging mit seinem muslimischen Freund Murat Aslaloĝlu direkt zur jüdischen Gemeinde und suchte den Dialog. Sie begegneten Meinhard Tenné, redeten miteinander und wurden Freunde. Anklagen wurden zu Fragen. Konfrontation wurde zu echter Begegnung. Nach einer Wieder-Beerdigung jüdischer NS-Opfer hält er fest, was der Rabbiner Meir Lau sagte: «Es gibt eine neue Generation und ein neues Denken, und wir sind zur alten Freundschaft zurückgekehrt» (S. 14).

In seinem Buch «Warum der Antisemitismus uns alle bedroht», klopft der Autor seinen Lesern allerdings nicht wohlmeinend auf die Schulter und meint: «Man muss einfach nur miteinander reden, dann wird alles gut…», stattdessen nimmt er sie auf einen Parforceritt durch die Kulturgeschichte mit.

Digitalisierung eines alten Denkfehlers

Knapp die Hälft des Buchs wird vom ersten Teil eingenommen. Dort beschreibt Michael Blume kenntnisreich, nachvollziehbar und gut verständlich, was die Kennzeichen des Antisemitismus sind und wie er entstand und noch entsteht.

Er entlarvt Antisemitismus als Verschwörungsdenken, das sich selbst von aller Verantwortung freispricht, «weil es Missstände und Misserfolge stets als Ergebnis einer gegen sich selbst gerichteten Aktion der anderen deutet, die für alles verantwortlich gemacht werden». Gleichzeitig macht er mit diesem Zitat des Politikwissenschaftlers Bassam Tibi die Tragweite des Themas deutlich. Es geht eben nicht darum festzustellen: «Ich habe nichts gegen Juden, also betrifft mich das Buch nicht…» In der Konsequenz betrifft der Umgang mit Antisemitismus das Wohlergehen aller Menschen. Oder wie es der Londoner Rabbiner Jonathan Sacks ausdrückte: «Der Hass, der mit den Juden beginnt, endet nie mit den Juden.»

Als Verschwörungsmythos ist Antisemitismus mehr Gefühlslage als faktisch nachvollziehbare Meinung. Daher lässt er sich auch nicht mit Argumenten aus der Welt schaffen. Trotzdem widersteht Blume der Versuchung, ein «Gegengefühl» aufzubauen. Er weiss: «Die Wissenschaft kann den Antisemitismus nicht bezwingen – aber ohne eine mutige Wissenschaft bleibt unsere Gegenwehr orientierungs- und oft auch wirkungslos.»

Gerüchte und Gedanken verbreiteten sich früher in erster Linie über Mund-zu-Mund-Propaganda. Beim Antisemitismus wurde das Ganze immer wieder auch von Veröffentlichungen unterstützt wie Luthers Schrift «Von den Juden und ihren Lügen» oder durch das Pamphlet «Protokolle der Weisen von Zion». Heutzutage dient das Internet als optimale Plattform für antisemitische Gedanken. Hier lässt sich am schnellsten Reichweite für spärlich untermauerte Ideen generieren, die die Gefühlslage ihrer Leser treffen.

«Da sieht man, wie gut die sind»

Etliche Beispiele helfen, die Mechanismen hinter dem Antisemitismus besser zu verstehen. So belegt Michael Blume unter anderem, dass einige Jahre nach dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center nur noch eine Minderheit aller arabischen Personen denkt, dass er von arabischen Terroristen verursacht wurde. «Entsprechend sahen auch 53 Prozent der befragten Muslime weltweit die Probleme der arabischen Zivilisation durch die amerikanisch-westliche Zivilisation verschuldet, nur 42 Prozent in fehlender Demokratie, nur 36 Prozent in fehlender Bildung und gar nur zwölf Prozent in islamischem Fundamentalismus.»

Typisch ist auch die Langlebigkeit von Verschwörungsmythen. Der Geheimbund der Illuminaten bestand zum Beispiel nur von 1776 bis 1785. Dann wurden sie verboten und sind seitdem auch nicht mehr wissenschaftlich nachweisbar. Trotzdem gehören sie bis heute zu den Hauptverdächtigen bei weltweiten Verschwörungen – nicht nur bei Bestsellerautoren wie Dan Brown. Wer nun versucht zu erklären, dass es doch keinerlei Hinweise auf heutige Illuminaten gibt, erntet oft nur ein: «Da sieht man, wie gut die sind…»

Antisemitismus ist laut Michael Blume ein Phänomen, das viele andere Verschwörungsgedanken in sich vereinigt. So erklärt er: «Wir können uns die Wirkmacht antisemitischer Mythen dabei auch als jahrtausendealten dunklen Strom vorstellen, der sich einen Canyon gegraben hat. Wo immer neue Verschwörungsmythen aufquellen, werden sie nahezu unweigerlich abwärts strömen und sich schliesslich mit dem antisemitischen Grundstrom vereinigen.»

Schrift gibt lineares Zeitverständnis

Nach der Bibel begründete Noahs Sohn Sem den Stamm der Semiten und damit die Tradition der semitischen Schriftreligionen Judentum, Christentum sowie Islam. Michael Blume zeigt nun, dass Schrift bzw. das Alphabet keineswegs ein neutrales Medium ist (Bilder oder Musik hätten eine völlig andere Wirkung). Jahrtausendelang herrschte ein zyklisches Weltbild vor – alles schien sich in endlosen Kreisläufen zu wiederholen. Mit der Schrift entstand ein lineares Zeitverständnis. Dieser weltverändernden Kraft einer Geschichte mit Richtung widersetzen sich die Verschwörungsmythen, bei denen eigentlich alles beim Alten bleibt: einmal Feind, immer Feind.

Gemässigt optimistisch

Michael Blume beschliesst sein Buch mit der eingeschränkt optimistischen Feststellung: «Ich kann mir durchaus vorstellen, dass wir – oder realistischer: unsere Enkel – einmal eine Welt mit deutlich weniger Rassismus und Antisemitismus erleben werden. Aber bis dahin werden Verschwörungsmythen noch viele Leben zerstören, viele geistige, kulturelle und wirtschaftliche Chancen zertrümmern.»

Sein Buch zeigt viele Wege in diese Richtung auf. Es sind allesamt keine automatischen oder einfachen Wege: Bildung, Erinnern statt Vergessen, Dialog zwischen den Kulturen und Religionen. Aber bei aller Einschränkung sind es eben auch Wege, auf denen jeder bereits heute losgehen kann.

«Warum der Antisemitismus uns alle bedroht» ist eine fantastisch aufbereitete Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Antisemitismus. Aber das Buch bietet mehr als Erkenntnisse. Es ist gleichzeitig ein Plädoyer dafür, Verantwortung zu übernehmen, im eigenen Leben, aber auch in den Weiten des Internets. «Antisemitismus bedroht uns alle. Es gilt, ihn in seinen tiefsten Wurzeln zu verstehen – und endlich zu überwinden.»

Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet und leitet das Referat «Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten und Projekte Nordirak» im Staatsministerium Baden-Württemberg. Seit 2015 war er daran beteiligt, 1'000 schutzbedürftige Frauen aus dem irakischen Krisengebiet herauszubringen. 2017 veröffentlichte er die vielbeachtete Stellungnahme «Islam in der Krise».

Zum Buch:
«Warum der Antisemitismus uns alle bedroht»

Zum Thema:
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Datum: 22.03.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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