«Fast jeder hat einen Verwandten oder Freund verloren»
Rebekka Schmidt (37) ist Redaktorin bei Livenet. 2002 arbeitete sie für einen christlichen Radiosender in Ecuador, wo sie ihren Ehemann kennenlernte. Seit damals lebt sie mit Unterbrechungen mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in Ecuadors Hauptstadt Quito.
Die Coronakrise beginnt in Ecuador
Am 29. Februar wurde in Ecuador der erste Corona-Fall gemeldet. Die Regierung gab an, die Situation im Griff zu haben. Irrtum: In der Millionenstadt Guayaquil breitete sich der Virus rasant aus, Schutzmassnahmen gab es anfänglich kaum. Das Gesundheitssystem konnte der schnell wachsenden Anzahl von Infizierten nicht begegnen.
Als der Virus dann auch in Quito grassierte, reagierte die Regierung massiver. Flughäfen und Grenzen wurden geschlossen, am 13. März begann die Ausgangssperre, welche aktuell von Nachmittag 14:00 Uhr bis morgens um 5:00 Uhr gilt. Weiter ist es nur an einem Tag pro Woche erlaubt, mit dem Auto zum Einkaufen zu gehen – und immer herrscht Maskenpflicht.
Politische Instabilität
«Das Land steckt seit 2015 in einer Wirtschaftskrise», erzählt Rebekka. «Seither ist es ein dauerndes auf und ab. Erst vergangenen Oktober wäre die Regierung beinahe gestürzt worden.» In der Folge standen nur ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung hinter der Regierung. Ein Umstand, der sich in der darauf folgenden Coronakrise schlecht auswirken sollte, die Leute stützen sich lieber auf teils widersprüchliche Nachrichten aus den sozialen Medien, als auf die undurchsichtigen Meldungen der Behörden. Chaos ist vorprogrammiert.
«Die Leute vertrauen der Regierung und deren Informationen nicht.» Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Rebekka wurden von offizieller Seite 220 Coronatote in Ecuador gemeldet. Eine Zahl, die kaum jemand wirklich glaubt. «Es müssen sehr viel mehr sein. Direkte Meldungen aus Guayaquil beschrieben, dass von einem Tag auf den anderen plötzlich Hunderte von Menschen starben.»
Totales Chaos in Guayaquil
Zu der unvorbereiteten Krankenhäusern gesellte sich unzuverlässige Berichterstattung. «Plötzlich machten Gerüchte die Runde, alle Toten seien an Corona gestorben und weiterhin hoch ansteckend. In der Folge gab es immer weniger Bestattungsdienste, die sich um die Verstorbenen kümmerte. Es gab auch keine Ärzte, welche den Tod bestätigen konnten. Manche Leichen lagen tagelang in den Häusern der Betroffenen, andere rollten die Toten in Tücher oder Tüten und legten sie auf die Strasse. Das war furchtbar!»
Wirtschaftliche Katastrophe
«Viele Leute in Ecuador leben mit wenigen Dollar pro Tag», berichtet Rebekka. Ersparnisse hätte kaum jemand. Die Schliessung der Märkte durch die Regierung ist für viele Menschen der Verlust ihrer Existenzgrundlage. «Die Leute müssen täglich rausgehen, um irgendwie Geld für Essen und Miete zu verdienen.» An die Schutzmaskenpflicht halten sie sich dabei nicht. Gleichzeitig zu den schwindenden Einkommen, schnellen teilweise die Preise für Nahrungsmittel sprunghaft in die Höhe, vor allem in der Hafenstadt Guayaquil. «Manches ist heute doppelt so teuer, wie vor der Krise.» Die Lage für Rebekka und ihre Familie ist etwas besser. «Wir gehören zu den Privilegierten, die problemlos Homeoffice machen können. Wir haben ein Bankkonto und können unsere Miete und andere Rechnungen bezahlen.»
Persönliche Betroffenheit
Sie ist froh, dass die Lage in Quito viel besser ist als in Guayaquil. Doch auch an ihr geht die Krise nicht spurlos vorüber. «Es hat uns sehr mitgenommen, als ein guter Freund an Corona starb.» Der Arzt aus Guayaquil verstarb trotz guter Gesundheit und hinterliess Frau und Baby. «Das war schon sehr heftig! Viele Menschen in Ecuador betrauern Nahestehende. Viele Opfer gehören nicht einmal zur Risikogruppe.»
Die persönliche Betroffenheit sei sehr gross in Ecuador. «Fast jeder hat einen Verwandten oder Freund verloren.» Es sind diese Momente, in denen der Mensch keine Antworten hat. «Da kommen auch immer wieder Zweifel hoch...» Wenn Rebekka keine Worte zum Beten hat, hört sie Worshipmusik. «So kann ich mich auf Gott ausrichten und innerlich zur Ruhe kommen.» Es ist ihr wichtig, in Bezug auf ihre Gefühle ehrlich zu sein. Es nütze nichts, die Sache schön zu reden. In dieser Ehrlichkeit erfährt sie Gottes Trost.
Deutsche und Schweizer dürfen dankbar sein
Rebekka stammt aus Deutschland, ihre Mutter ist aus der Schweiz – genauso, wie ihr Arbeitgeber. Sie ist also mit diesen Ländern vertraut. Im Blick auf die Krise in Ecuador glaubt sie, dass Deutsche und Schweizer sehr viel Grund haben, dankbar zu sein. «Bei euch halten sich die Leute einfach an die Weisungen der Regierung – selbst dann, wenn sie den Schutzmassnahmen kritisch gegenüber stehen.» In Ecuador ist dies unvorstellbar. Auch von ausreichenden medizinischen Einrichtungen und finanziellen Hilfen können Menschen in den meisten Ländern dieser Welt nur träumen. Verglichen mit Ecuador, verläuft die Coronakrise in unseren Ländern tatsächlich sehr milde. Ein echter Grund, dankbar zu sein!
Dankbarkeit in einer Krise
Doch auch in Ecuador gibt es Grund zur Dankbarkeit. «Die Christen stehen zusammen und werden sehr kreativ, der Not in ihrem Umfeld zu begegnen», freut sich Rebekka. «Es gibt Momente, in denen mich das Ganze runterzieht. Dann denke ich an all diejenigen, denen es viel schlimmer geht. Und wir versuchen, mit dem, was wir haben, anderen zu helfen.» Und ja: Rebekka ist nach wie vor davon überzeugt, dass Gott sie und ihre Familie durch diese Krise hindurchtragen wird. Ein weiterer Grund, von Herzen dankbar zu sein.
Rebekka Schmidt sprach auch im Livenet-Talk vom 7. April 2020 über die Not in Ecuador:
Zum Thema:
Livenet-Redaktorin in Ecuador: «Es ist bewegend, wie die Tragödie das Land zusammenschweisst»
Interview mit Rebekka Schmidt: «Sich zu seinem Glauben zu bekennen, ist hier manchmal einfacher»
Tiefe Spaltung im Parlament: Ecuador stoppt neues Abtreibungsgesetz
Datum: 16.04.2020
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet