Sehr viel Heilung erlebt
Als Karin mir von ihrer Mitarbeit im «Parparim» (hebr. Schmetterlinge) erzählt, merke ich, wie wichtig ihr diese ehrenamtliche Arbeit ist. «Parparim» ist eine unabhängige Hilfsorganisation, die sich auf der Basis einer christlichen Werthaltung der Nächstenliebe für Menschen in Prostitution einsetzt. Prostituierte werden von Mitarbeiterinnen aufgesucht, um ihnen zu zeigen, dass auch sie Würde und Menschlichkeit verdient haben. «Vor jedem Einsatz beten wir eine Stunde und hören auf Gott. Diese Eindrücke schreiben wir in ein Buch, bevor wir die Frauen besuchen. Es ist unser Ziel, dass die Frauen aussteigen und einer normalen Arbeit nachgehen können, aber genauso wichtig ist, dass sie die Liebe Jesu erfahren.»
Ich finde es sehr mutig, dass Karin in diesem Bereich mitarbeitet. Sie hat am eigenen Leib erfahren, dass fehlgeleitete Sexualität schweren Schaden anrichten kann.
Ohne Jesus wäre ich nicht mehr
Karin ist in Obfelden, im Zürcher Säuliamt, aufgewachsen. «Ich hatte das grosse Glück, dass meine Lehrerin bekennende Christin war!» Von der zweiten bis zur sechsten Klasse gibt die Lehrerin den Schülerinnen immer wieder zu verstehen, dass Gott sie liebt. Jedes Kind bekommt eine Bibel geschenkt. Obwohl Karin zuerst gar nicht so viel damit anfangen kann, nehmen die Geschichten der Bibel einen wichtigen Platz in ihrem Herzen ein.
Ganze Sache mit Jesus macht Karin dann in der Oberstufe. Eine Freundin lädt sie zu einer Evangelisation ein und am letzten Abend geht sie nach vorne und gibt ihr Leben Jesus. «Ohne Jesus stände ich nicht da, wo ich heute stehe!»
Vaters Schizophrenie
Zu Hause ist es schwierig. Der Vater erkrankt an Schizophrenie. In diesem Zustand macht er Dinge, die Menschen normalerweise nicht tun. «Einmal fesselte er unsere Nachbarin ans Geländer im Treppenhaus!» Immer wieder muss der Vater in die Klinik und «dann ist es zu Hause wieder richtig schön». Karin lernt zu verdrängen und zu schweigen. Zu peinlich sind die Geschichten. Dass sie aber noch viel mehr verdrängt, wird ihr erst viele Jahre später bewusst.
Ein Trauma bricht auf
Nach der Schule macht Karin ein «Welschlandjahr». Dort erlebt sie, dass Familie auch ganz normal und schön sein kann. «Diese Familie war das Beste, was mir passieren konnte! Alle waren so lieb zu mir! Zum ersten Mal erlebte ich, wie Familie auch sein kann.»
Sie entscheidet sie sich für eine Lehre als Pflegefachfrau in einem Diakonissenhaus in Bern. Dieser Beruf gefällt ihr sehr gut. Zu den Tätigkeiten gehört auch das Waschen ihrer Patienten. Und genau hier passiert es. Ein Mann macht sie dabei an und Karin ist wie blockiert. Es wird ihr schlecht, alles dreht sich. Sie rennt ins Badezimmer und weiss nicht, was mit ihr passiert. Beim anschliessenden Rapport redet sie darüber und sie muss den Patienten nicht mehr pflegen. Aber was war da los? Sie wird zunehmend von Alpträumen und Tagbildern geplagt, die sie nicht einordnen kann.
Sexueller Missbrauch
Karin kommt in den Kontakt mit einer Diakonisse, die therapeutische Seelsorgerin ist. Damit beginnt eine jahrelange therapeutische Begleitung. Noch heute besucht sie eine Traumatherapie. Nach und nach kommt zu Tage, was Karin jahrelang verdrängt hat. «Diese Erlebnisse waren wie abgespalten von mir. Ein Trauma.»
Sie erinnert sich wieder, dass sie schon einmal als achtjähriges Mädchen in einer Therapie war. Als Kind verbringt sie viel Zeit bei ihren Grosseltern im Glarnerland. Manchmal fährt sie ein Onkel dorthin und ihm fällt auf, dass die kleine Karin während der Fahrt nie redet. Er veranlasst, dass untersucht wird, warum das so ist. Aber Karin redet nicht. Erst in der späteren Traumatherapie wird klar, dass sie vom Grossvater missbraucht wird. «Du bist ein braves Mädchen und brave Mädchen verraten nichts», sagt er ihr immer wieder.
Es kommen mir beim Schreiben die Tränen, wenn ich mir den Schmerz vorstelle, den Karin erleben muss. Aber auch eine Wut und Ohnmacht auf uns Männer, die zu so etwas Grausamem fähig sind.
«Ich dachte, das ist normal»
Aber das ist noch nicht das Ende. Auch der Vater vergeht sich in seinen Wahnzuständen und Alkoholeskapaden an dem Kind. «Ich wusste ja nicht mehr, was unten und oben ist. Ich dachte, das ist normal, was die Männer hier machen.» Immer mehr Begebenheiten kommen in der Traumatherapie zum Vorschein. Auch der Nachbar einer älteren Freundin vergeht sich an ihr. Die Bilder, die in Karin hochkommen, deuten auf einen rituellen Missbrauch hin. Karin fährt mit ihrer Therapeutin zu einem Schopf im «Säuliamt», wo diese dunklen Dinge geschahen. Es ist harte Arbeit, aber sie lohnt sich. «Ich habe sehr viel Heilung erlebt. Die Suizidgedanken sind weg. Ich habe gelernt, dass ich zu mir stehen und mich auch wehren kann. Ich konnte vergeben.»
Rückblickend erkennt sie, dass Gott zwar Schweres zugelassen hat, aber sie nie allein liess. «Immer wieder hat er Menschen über den Weg geschickt, die mir seine Liebe zeigten und die mir halfen, heil zu werden. Ich habe nie an der Liebe Gottes gezweifelt.»
Karin hat heute eine eigene Familie und besucht mit ihr die FEG Gümligen. Auch wenn nicht alles nur einfach ist, staunt sie über die Gnade Gottes, die sie erlebt hat. Und ich verstehe, warum Karin die heilende Botschaft von Jesus Christus zu den Prostituierten bringen will.
Sind Sie selbst betroffen von sexueller Ausbeutung?
«Be unlimited» bietet kostenlos die Kummernummer an (anonym, diskret und gratis): 0800 66 99 11 oder unter https://www.kummernummer.org/
Für Anliegen, die Ihre Gemeinde betreffen, melden Sie sich unter krise@feg.ch oder unter 043 288 62 22.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin von FEG Schweiz.
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Datum: 10.11.2021
Autor: Harry Pepelnar
Quelle: FEG Schweiz