Kafka, der König und das Herz
Franz Kafka war ein besonderer Autor. Seine düsteren Romane und Kurzgeschichten schrieb er meistens nachts, weil er tagsüber als Jurist bei einer Versicherung arbeitete: «Das Schloss», «Der Prozess» oder «Die Verwandlung». Er hatte einen guten Blick für Menschen und ihre Nöte. Vielleicht kam das durch seinen Job, in dem er viel mit Arbeitssicherheit, Unfällen und armen Familien zu tun hatte.
Kafka und die Puppe
Kurz bevor er 40 wurde, erkrankte Kafka an Tuberkulose. Ein Jahr vor seinem Tod war er zur Kur in Berlin und ging täglich im Park neben seiner Wohnung spazieren. Einmal traf er dort ein Mädchen, das auf einer Parkbank sass und weinte. «Was ist passiert?» – «Ich habe meine Puppe verloren.» – «Komm, wir suchen sie zusammen.» Der Dichter und das Mädchen suchten, aber sie fanden sie nicht. «Wie dumm von mir», sagte Kafka, «deine Puppe macht doch gerade eine Reise. Sie hat es mir in einem Brief geschrieben.»
Natürlich wollte das Mädchen den Brief sehen. Kafka meinte, den hätte er zu Hause vergessen, aber er würde ihn am nächsten Tag mitbringen. Also setzte er sich abends hin und schrieb einen Brief – und war am nächsten Tag wieder im Park. Im Brief hatte die Puppe geschrieben, dass sie das Mädchen gernhätte, aber nicht immer nur in einer Familie bleiben könnte. Sie bräuchte Luftveränderung. Aber sie würde sich täglich melden. Also setzte sich Kafka jeden Abend an den Schreibtisch, um dem Mädchen von seiner Puppe zu erzählen, die Abenteuer erlebte, zur Schule ging und nicht zurückkommen wollte. Kafka hatte einen Blick für Menschen und ihre Nöte. Von so einem Blick ist auch an einigen Stellen in der Bibel die Rede.
Rotzlöffel oder König?
Samuel war früher der wichtigste Sprecher Gottes in Israel, ein Prophet. Er hatte vor einigen Jahren Saul zum König gemacht. Und jetzt hatte Gott ihm verraten: «Er bringt's nicht mehr. Er hört nur auf sich selbst, nicht auf mich. Samuel, berufe einen neuen König. Geh nach Bethlehem zu Isai. Einer seiner Söhne soll Sauls Nachfolger werden.»
Also packte Samuel seine Ölflasche ein, setzte sich ins Auto und fuhr nach Bethlehem. Jeder kannte Isai, aber jeder kannte auch Samuel, und als ihn die Leute sahen, kamen sie gleich mit: Da war doch etwas im Busch… Isai erklärte er: «Ich will bei dir ein Opfer darbringen – und es wird so eine Art Casting geben, dafür brauche ich deine Söhne.» Schnell waren alle sieben zur Stelle. Und Samuel fragte sich, wie er denn unter diesen Männern den zukünftigen König erkennen sollte. Der Älteste wirkte jedenfalls sehr königlich. Aber tief drinnen hörte Samuel die Stimme Gottes – und die sagte nein: «Schaue nicht auf sein Aussehen, noch auf seinen hohen Wuchs, denn ich habe ihn verworfen! Denn der Herr sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht; denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an!» (1. Samuel Kapitel 16, Vers 7).
Beim zweiten Sohn hörte Samuel wieder gut hin – und Gott sagte nein. Wonach sollte er überhaupt schauen? Nach der sportlichen Figur? Dem IQ? Den Führungsqualitäten?
Isais Familie und die Nachbarn hatten jedenfalls noch nie so ein seltsames Casting gesehen. Irgendwann war Samuel ohne Ergebnis am Ende der Schlange angekommen. Er fragte nach: «Sind das alle deine Söhne?» «Der Jüngste ist noch übrig», antwortete Isai, «er hütet die Schafe!» Sie holen ihn, Gott nickt Samuel zu, der holt die Ölflasche heraus und salbt David zum König – und kaum jemand versteht, was da vor sich geht. Was jedoch alle realisieren: Irgendwie hat Gott gerade den ausgesucht, den sich niemand ausgesucht hätte. Weil er sich nicht von Äusserlichkeiten blenden lässt, sondern das Herz sieht.
Sehen und gesehen werden
Für viele ist sehen und gesehen werden eine Gelegenheit, sich zu präsentieren. Aber eigentlich meint der Bibelvers genau das Gegenteil. Es geht darum, dass ich andere Menschen wirklich sehe. Vielleicht schleppen sie etwas mit sich herum, und ich weiss es nicht. Sie verhalten sich unmöglich, und ich verstehe es nicht. Sie sind super freundlich, und ich habe trotzdem keine Ahnung, was in ihnen vorgeht. Da tut es gut, sie mit Gottes Augen zu sehen, und zu fragen: Gott, wie siehst du sie? Was magst du bei ihnen ganz besonders? Was hast du vielleicht mit ihnen vor? Wo brauchen sie Ermutigung/Zuspruch? Wie kann ich ihnen zeigen, dass du sie siehst?
Genauso gehört aber meine Situation dazu. Auch mir tut es gut, wenn Gott (und andere in der Gemeinde) mich sehen. Auch wenn ich mich gerade nicht als Vorbild fühle. Wenn ich vielleicht geistlich vorangehen möchte, aber der Haussegen gerade schiefhängt. Wenn ich mich gerade frage, ob es Gott überhaupt gibt. Aber Gott hilft mir nicht nur, andere zu sehen. Er sieht auch mein Herz.
Und die Puppe?
Kafka hatte ein Problem beim Schreiben. Er kam nicht zum Ende, weil er mit dem Ergebnis nie zugfrieden war. In Berlin musste er eine Lösung finden. Drei Wochen lang traf er sich jeden Tag mit dem Mädchen im Park. Und als sie so weit war, dass sie ihre Puppe nicht mehr vermisste, stand im letzten Brief, dass sie geheiratet hätte und: «Du wirst selbst einsehen, dass wir in Zukunft auf ein Wiedersehen verzichten müssen.» Kafkas Freundin, Dora Diamant, erzählt, dass beide damit zufrieden waren.
Das kann man jetzt auf die Goldwaage legen und sagen, dass er das Mädchen belogen hat. Man kann aber auch sagen, dass hier ein kranker Mann, der eigentlich am liebsten allein war, über seinen Schatten gesprungen ist, um einem Kind mit dem zu helfen, was er selbst gut konnte. Weil er es gesehen hat.
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Datum: 09.09.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet