Kirche in der Lebenswelt der Menschen
Livenet.ch: Michael Frost, mit welchem Gefühl sind Sie in die Schweiz gekommen?
Michael Frost: Mit Zurückhaltung. Ich will nicht auftreten als einer, der weiss, was die Schweizer Kirchen tun sollen. Ich bin zum erstenmal hier. In Australien ärgern wir uns zuweilen über Missionsexperten, die aus England und den USA einfliegen. Ich möchte einen nützlichen Beitrag leisten.
Ihnen geht es nicht um ein Modell, sondern einen Ansatz, der überall verwirklicht werden kann?
Ja, ich sage nicht, was zu tun ist und wie. Das missionale Paradigma, das ich vertrete, zielt darauf ab, dass Gemeinden verschiedene Gestalt annehmen je nach dem Kontext, in dem sie sich finden, je nach Subkultur, Nachbarschaft, sozialer Schicht oder Interessengruppe. Die Idee ‚one size fits all' - dass ein Grundkonzept von Kirche auf alle möglichen Situationen übertragen werden kann - hat wohl nie Sinn gemacht; heute jedenfalls fährt niemand mehr darauf ab.
Warum plädieren Sie dafür, dass Gemeinden sich auf eine bestimmte Gruppe festlegen sollten?
Eine Gemeinde soll wissen, zu wem Gott sie gesandt hat. Das meinen wir mit missionaler Kirche: Sie soll im Bewusstsein leben, dass Gott sie über sich selbst hinaus sendet. Er nimmt die Gemeinde und gibt sie einer Gruppe von Menschen, sendet sie zu ihnen.
Geht es darum, Gemeinde neu zu denken - oder zuerst zu träumen, was sie sein könnte?
Oft haben Gemeinden versucht, Kirche anders zu denken: Sie haben die Anbetung anders gestaltet, um Menschen anzuziehen, moderne Gebäude errichtet, statt der Orgel- Popmusik eingeführt oder Leiterteams an die Stelle starker Persönlichkeiten gesetzt. Das Wie haben wir immer wieder überdacht und variiert - mit ganz geringer Wirkung.
Ich schlage dagegen vor, dass wir jene Gruppe von Menschen identifizieren, zu der Gott uns sendet, und in ihr das Evangelium Gestalt gewinnen lassen. Wir lassen zu, dass christliche Gemeinde im Boden dieser Gruppe heranwächst. Diese Gemeinde wird natürlich geformt von ihrer Theologie und dem Glauben, aber auch durch ihr Umfeld. Vielleicht feiert sie am Donnerstag Abend in einem Café Gottesdienst, nicht in einem Kirchengebäude am Sonntag Morgen. Es geht darum, dass der Pulsschlag der Gemeinde den Lebensrhythmus der Kultur der Gruppe abbildet.
Wenn Sie von Boden und Wachstum sprechen, meinen Sie natürliche Vorgänge, die Zeit brauchen, die nicht programmierbar sind und quer zu unserer Macher-Mentalität stehen?
Mit vorgefassten Meinungen und fixen Erwartungen starten - das kann es nicht sein. Mission muss auf das Umfeld bezogen werden. Dies braucht Zeit wie jeder Wachstumsprozess.
Vor uns haben moderne Christen die Kirche modern gestaltet. Was haben sie falsch gemacht?
Ich will ihre Arbeit nicht abqualifizieren. Mir scheint aber, dass sich die Kultur unter ihren Füssen stark verändert hat. Der Westen gliedert sich zunehmend in Subkulturen, gebärdet sich vermehrt nachchristlich und postmodern. Kirche wurde in einem Milieu gestaltet. Die Kultur, die den Rahmen und die Grundlage dafür abgab, ist nicht mehr dieselbe.
Um es konkreter zu sagen: Da gibt es die Kirche mit einer Handvoll frommer Ladies, die eifrig beten, Bedürftigen nachgehen und sich vor Ort einsetzen. Aber sie haben den kulturellen Wandel nicht mitgemacht. Sie haben eine vorgegebene Auffassung von Kirche, die nicht mehr in die Welt von heute passt.
In der Vergangenheit ist die Kirche oft mit Gewalt und autoritär eingefahren. Das wird ihr heute zur Last gelegt; viele haben sich abgewandt. Es geht darum, zu den Menschen zu gehen, sie zu lieben und ihnen demütig zu dienen. So demütig wie es Christus tat, der als Baby auf die Welt kam, verletzlich und hilflos. Haben wir mit den Gebäuden, Veranstaltungen und Programmen das einzigartige Dienen, das ihn auszeichnete, verloren?
Sie stellen in Ihrem Buch einen erdigen Christus vor. Welche Seiten von ihm sollten wir neu entdecken?
Schauen Sie, wie er mit Menschen umging. Einerseits unkonventionell und radikal, ja subversiv im Kontakt mit den Pharisäern, andererseits barmherzig und gütig gegenüber Verachteten und Randständigen. Wir sollten beides von ihm lernen.
In meinem Land denken viele, dass Jesus ausgesprochen nett und höflich war, sanftmütig und mild. Die Evangelien sprechen eine andere Sprache. Manchmal ist er sehr steil eingefahren, zwischendurch fast grob. Er hat Mitleid - aber nett? Nein. Wir haben aus Jesus einen Messias gemacht, der keinem wehtut. In den Evangelien fällt auf, dass man ihn nicht berechnen konnte. Seine Liebe und Demut sind neu zu üben.
Wie kommen wir zu diesem Jesus zurück?
Es hilft, seine Zeit und die jüdische Kultur zu studieren. Wir sollten die dualistische Weltsicht hinter uns lassen. Jüngere Leute heute können eher mit Zweideutigkeiten leben. Ihre Eltern und Grosseltern haben scharf zwischen richtig und falsch unterschieden, zwischen innen und aussen getrennt. Im Gleichnis spricht Jesus vom Unkraut, das mit dem Weizen aufwächst und nicht von den Menschen ausgerissen werden soll. Gott wird sich zuletzt darum kümmern. Er trennt die Schafe von den Böcken. Unser Job ist, Schafe zu hegen und Weizen zu kultivieren. Aber das Andere ist auch da. Wir können keine scharfen Grenzen ziehen. Wir haben einzusehen, dass Gott auch ausserhalb der Kirche am Werk ist.
Artikel zum Thema: Mission: Zukunft der Kirche
Datum: 31.03.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch