«Mich sollte es eigentlich gar nicht geben!»
Eigentlich hätte Markus Grossenbacher als neuntes Kind einer Bauernfamilie in Affoltern im Emmental gar nicht zur Welt kommen dürfen. Nachdem das achte Kind der Familie mit einer «Rhesus-Unverträglichkeit» geboren wurde und kurz nach der Geburt starb, war eine weitere Schwangerschaft nach Einschätzung der Ärzte viel zu riskant. «Sie warnten meine Eltern vor dem hohen Risiko, dass bei der Geburt entweder die Mutter, das Kind oder sogar beide sterben könnten. Doch für meine Eltern kam eine Abtreibung nicht in Frage.» Und so kam Markus Grossenbacher am 28. August 1951 quicklebendig zur Welt.
Als Kind träumte der kleine Markus davon, einmal König zu sein. In ein Schloss zog er dann tatsächlich knapp fünf Jahrzehnte später ein – jedoch nicht als König, sondern als Regierungsstatthalter des Amts Trachselwald. Zuvor war er Bauer auf dem elterlichen Hof in Affoltern und jobbte nebenbei in einer Garage, als Briefträger, in einer Schreinerei oder einmal auch in einem Elektro-, Spengler- und Sanitärgeschäft.
Infektion mit Folgen
Eines Tages erwischte er eine Grippe, die sein vegetatives Nervensystem angriff. Dies wirkte sich bei grosser Anstrengung auf seine Herznerven aus. Grossenbacher erinnert sich: «Eines nachts, nachdem ich einen Tag lang gepflügt hatte, war ich von der Hüfte abwärts gelähmt.» Am Morgen waren die Lähmungserscheinungen wieder weg, aber es war klar: Der junge Mann eignete sich nicht für körperlich anstrengende Tätigkeiten.
So kam es, dass Markus Grossenbacher mit 20 Jahren auf der Gemeindeschreiberei Dürrenroth eine kaufmännische Lehre in Angriff nahm. «Als es Frühling wurde und die Bauern draussen zu arbeiten anfingen, zog es mich an allen Haaren hinaus», erinnert er sich. Doch zunehmend gefiel ihm die Arbeit auf der Verwaltung. Bald wurde er stellvertretender Gemeindeschreiber von Sumiswald und später Gemeindeverwalter von Dürrenroth. Hier gründete er mit seiner Frau eine Familie und ist heute stolzer Grossvater von zwölf Enkelkindern.
«Ein Mensch ist ein Mensch»
1997 drängte ihn die SVP, als Statthalter des Amts Trachselwald zu kandidieren. «Unsere Kinder waren zu diesem Zeitpunkt schon aus dem Haus und ich sagte zu meiner Frau, diese Aufgabe würde mich eigentlich schon reizen.» Seine Frau wollte ihn nicht bremsen und so zog er in die Kampfwahl gegen den ehemaligen SP-Grossrat Heinrich Schütz aus Lützelflüh und gewann diese überraschend deutlich. «Auch diese Wahl war ein Wunder», sagt Grossenbacher heute in seiner bescheidenen Art. «Mir kommt es so vor, als ob ich in dieses Amt gestellt wurde.»
Gleich nach der Wahl habe er den SVP-Parteistrategen eröffnet, er habe jetzt das Parteibüchlein abgelegt. Von jetzt an sei jeder – ob rot, grün oder was auch immer – genau gleich wertvoll und er wolle für alle Leute da sein. «Ein Mensch ist ein Mensch», war von Anfang an sein Credo.
Geduldiger Zuhörer mit klarer Linie
Sehr schnell habe er gemerkt, dass er mit seiner Autorität als Statthalter in vielen Streitigkeiten oder Pattsituationen etwas erreichen kann. Oft habe er durch pragmatische Vorschläge, in einem anständigen Ton vorgebracht, Kompromisse aushandeln können. Bei zwei Bauern, die sich wegen eines Grenzverlaufs in die Haare geraten waren, schlug er kurzerhand Holzpfosten an den Grenzpunkten ein. «Als ich den beiden Herren vorschlug, dies doch als für beide Seiten gerechte Lösung zu akzeptieren, nickten die beiden nur und meinten: 'Ist gut, gehen wir einen Kaffee trinken.'» So verliefen viele Mediationen, bilanziert Grossenbacher. Wichtig sei, den Menschen immer die Chance zu geben, ihr Gesicht zu wahren.
Als Regierungsstatthalter war Markus Grossenbacher zu dieser Zeit auch für vormundschaftliche Massnahmen wie etwa fürsorgerische Freiheitsentzüge (FFE) zuständig. Da habe er auch oft konsequent durchgreifen müssen. «Man kann jemanden hart anpacken, doch wichtig ist, dass das Herz dabei ist.» So habe er es in den 19 Jahren als Statthalter nie erlebt, dass jemand gegen ihn gewalttätig wurde. «Einmal mussten wir einen Familienvater mittels FFE in die Psychiatrische Klinik in Münsingen einweisen, weil er sich selbst nicht mehr im Griff hatte. Als wir ihm dann mitteilten, dass wir einen Vormund für ihn suchen müssten, zeigte er mit dem Finger auf mich. Das hat mich sehr berührt. Obwohl ich derjenige war, der ihn in diese Anstalt einliefern liess, vertraute er mir immer noch!»
Nicht gepredigt, sondern vorgelebt
Aus seinem christlichen Glauben, den ihm bereits seine Eltern vorgelebt hatten, machte Markus Grossenbacher nie ein Geheimnis. «Alle, bis hin zum Regierungsrat, wussten um meine Gesinnung, aber ich habe immer darauf geachtet, nicht zu predigen. Ich wollte meinen Überzeugungen durch meine Entscheidungen und mein tägliches Verhalten treu sein.» Manchmal habe er sich tatsächlich auch als Pfarrer gefühlt, der den Menschen Trost und Hoffnung spenden konnte, wenn sie in einer schwierigen Lebenssituation waren. Am stärksten sei dies bei den Hochwasserkatastrophen in der Region zum Tragen gekommen. «An das Unwetter 2007 in der Region Huttwil erinnere ich mich noch sehr genau. Das war schlimm. Drei Menschen verloren in dieser Nacht Anfang Juni 2007 ihr Leben. Die Bilder von den Feuerwehrmännern, die am Boden sassen und weinten, weil sie eine Frau nicht mehr retten konnten, werde ich nie vergessen. Solche Erlebnisse gehen nicht spurlos an einem vorbei.»
Bei all dem Schweren, das er miterleben musste und der Last der Verantwortung, die er zu tragen hatte, habe ihm der Glaube oft geholfen, so Grossenbacher. «Ehrlich gesagt wüsste ich nicht, wie ich das sonst alles geschafft hätte.»
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Datum: 23.10.2019
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Hope Emmental | www.hope-emmental.ch