Tsunami: Wie weiter in Aceh?
In der Provinz Aceh auf Sumatra könnten auf dem breiten Uferstreifen durch das Beben und die folgende Flut weit über 100'000 Menschen umgekommen sein. Aceh gilt in Indonesien als „Veranda nach Mekka“. Das Bewusstsein der 3,5 Millionen Acehnesen ist traditionell durch den Islam und eine enge Verbindung zur arabischen Welt geprägt.
Aceh kann als Bollwerk des Islam in dieser Region gesehen werden. Vor allem durch Händler verbreitete sich die Religion Mohammeds im Mittelalter in Südostasien. Sultan Iskandar Muda von Aceh kontrollierte um 1630 den Seehandel über die wichtige Seestrasse von Malakka hinaus.
Seit Jahrhunderten eine islamische Hochburg
Aceh war aber mehr: das Zentrum islamischer Gelehrsamkeit in der südostasiatischen Inselwelt. Laut Francis Robinson kamen aus Arabien und Indien die Islamgelehrten und ihre Schriften ins Land, während Acehs begüterte Einwohner nach Mekka pilgerten und bei den berühmten Gelehrten Arabiens studierten. Wegen zahlreicher Ehen mit Arabern gibt es in Aceh mehr Menschen mit heller Haut als im übrigen Indonesien.
Die Portugiesen hatten Pasai, die Hauptstadt Acehs, 1521 erobert, verloren aber die Kontrolle über das islamische Reich schon nach drei Jahren. In den folgenden Jahrzehnten festigten die Herrscher von Aceh ihre Macht. Später rivalisierten Engländer und Niederländer um die Herrschaft über Sumatra und die Strasse von Malakka, durch die die Gewürzschiffe fuhren.
Den Kolonialherren politisch wie religiös getrotzt
Die Ausrichtung Acehs und seinen Charakter als islamische Hochburg konnten die Kolonialmächte nicht brechen. In einem Vertrag überliess London den Niederlanden 1824 alle Besitzungen auf Sumatra, wobei die Holländer Aceh die Unabhängigkeit zugestanden. Trotzdem suchten sie das Land 1873 zu erobern – vergeblich: Sie verloren in Kämpfen mit der einheimischen Guerilla bis 1942 über 10'000 Menschen!
In der Kolonialzeit wirkten christliche Missionare auf Sumatra vor allem in den aniministisch geprägten Völkern und Stämmen abseits der Küsten. Unter den schätzungsweise 1000 Christen, die vor dem Seebeben am 26. Dezember in der Provinz lebten, fanden sich nur wenige Acehnesen. Die meisten Christen gehören zum Nachbarvolk der Batak. Ein indonesischer Pastor im Westen hofft, dass nach der schrecklichen Flutkatastrophe ein Durchbruch zu religiöser Freiheit in der Provinz erfolgen kann.
Missionare abgewiesen
Die Acehnesen haben Missionaren, auch Indonesiern, in aller Regel die kalte Schulter gezeigt und manche verjagt. Sie sprechen anders als ihre Nachbarvölker, Javaner und Malaysier, eine nicht-malaiische Sprache.
Im Unterschied zu Java, wo sich der Islam mit hinduistischen und magischen Praktiken vermischte und korrupte Eliten ein beängstigendes soziales Gefälle in Kauf nehmen, suchen die Acehnesen gemäss einer Expertin einen reinen Islam mit sozialem Ausgleich zu leben.
Alter Stolz gegen neue Herren
Zu den kulturellen und religiösen Unterschieden kommt die konfliktreiche neuere Geschichte: Als Ende 1949 aus Holländisch-Ostindien die Republik Indonesien wurde, schlug man Aceh dem neuen Staat zu, obwohl es nicht so zum Kolonialreich gehört hatte wie die anderen Gebiete.
Die aus Javanern bestehende indonesische Regierung sandte darauf Truppen in die nordwestliche Grenzprovinz und annektierte sie mit Gewalt. Da erstaunte es kaum, dass die radikal-islamische Rebellenbewegung, die Java in den 50-er Jahren unsicher machte, auch aus Aceh Unterstützung erhielt.
Soziale Spannungen als Nährboden für Islamisten
Der indonesische Staat lässt die reichen Erlöse aus den Erdgas- und Erdölfeldern vor Aceh nach Jakarta fliessen. Die Wut darüber gibt dem Streben nach Unabhängigkeit in der Provinz anhaltend Nahrung. Die Rebellenbewegung GAM (Bewegung Freies Aceh) kämpft seit 1976 mit Gewalt für ein unabhängiges Aceh. Nach der Verhaftung zahlreicher Aktivisten gingen die GAM-Führer nach Schweden ins Exil.
Offenbar angefeuert von einem Dschihad-Prediger aus dem benachbarten Malaysia, nahmen junge Acehnesen den Kampf 1989 erneut auf. Sie wehrten sich auch gegen die unter Suharto forcierte Ansiedlung von Zehntausenden von anderen Indonesiern (vor allem vom übervölkerten Java) in ihren Industriezonen an der Küste und Berggebieten. Fruchtbares Land und gute Jobs gingen den Einheimischen dadurch verloren.
Peitsche und Zuckerbrot
Im Bürgerkrieg, bei dem der GAM angeblich Islamisten aus Nordafrika helfen, sind nach Schätzungen 10'000 Personen (vor allem aus der Zivilbevölkerung) getötet worden. Viele Acehnesen flüchteten aus der Heimat, um Haft, Folter und Tod zu entgehen.
Die indonesische Armee ist in Aceh für ihre Brutalität gefürchtet; anderseits gab die Zentralregierung in Jakarta schon 1959 der Unruheprovinz grössere Autonomie und gestattete ihr 2002, das islamische Gesetz, die Scharia, einzuführen – ein Bruch mit der multireligiösen Grundlage des indonesischen Staats.
Randprovinzen gegen den Zentralstaat
Das riesige Inselreich stürzte nach dem Sturz des Diktators Suharto 1998 in eine tiefe Krise, was den Absetzbewegungen in den Randprovinzen – Aceh im Westen, Irian Jaya im Osten – Auftrieb gab. Die Zentralregierung fürchtet den Domino-Effekt. Der im Dezember 2002 für Aceh geschlossene Waffenstillstand zerfiel nach wenigen Monaten; im Mai 2003 verhängte Jakarta das Kriegsrecht über die Provinz.
Die GAM führt den Bürgerkrieg mit dem Ziel eines eigenen islamischen Staats. Einige ihrer Vertreter wollen ganz Sumatra von der ‚neo-kolonialistischen’ Herrschaft Jakartas befrieen. (Eine unbekannte Zahl extremistischer Muslime strebt einen radikal-islamischen Staat für ganz Südostasien an.)
Kommen die Helfer zu den Leuten?
Der ungelöste Konflikt dürfte die Hilfe und den Wiederaufbau gefährden; das Misstrauen der traumatisierten Bevölkerung gegenüber der Zentralgewalt ist den Bemühungen der Staaten und Hilfswerke jedenfalls nicht förderlich. Künden die Helikopter, mit denen zuerst die Amerikaner Hilfsgüter gebracht haben, eine neue Zeit an?
Die indonesische Führung lässt die Helfer durch ihre Soldaten begleiten, angeblich um sie vor Angriffen der Separatisten zu schützen. Dies missfällt den Hilfsorganisationen, die den offenen Kontakt zu den Bedürftigen suchen.
Nach Aussagen des Terror-Experten Sidney Jones von der „International Crisis Group“ sind seit dem 26. Dezember Dutzende von Kämpfern der islamistischen Miliz „Lashkar Mujahidin“ in die verwüstete Provinz eingesickert. Jones sagte in Singapur, die indonesischen Kämpfer wollten verhindern, dass australische und US-Soldaten mit der humanitären Hilfe auch den christlichen Glauben nach Aceh brächten. Allerdings seien die Acehnesen dafür bekannt, dass sie sich nicht von aussen vorschreiben liessen, in welchen Bahnen sie zu denken hätten. Ob dies nach dem Tsunami-Trauma gleicherweise gilt?
Mehr zum Thema: www.flutkatastrophe.livenet.ch
Datum: 12.01.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch