«Beteiligung des Volks ist wichtiger als das Tempo»
Livenet: Hannes Wiesmann, mit dem MAST-Programm übersetzte eine Partnerorganisation von Wycliffe innerhalb von zwei Wochen fast die Hälfte des Neuen Testaments – werden künftig komplette Bibeln mit dem Alten Testament innerhalb von sechs bis zwölf Monaten fertig gestellt?
Hannes Wiesmann: Es würde uns sehr freuen, wenn dies möglich wäre! Aber ich glaube nicht, dass dies der Fall sein wird. Viel wichtiger als die Geschwindigkeit einer Übersetzung ist ohnehin die Frage, ob eine Übersetzung die verändernde Kraft entfalten kann, die Gott in sein Wort legt. Damit dies geschehen kann, sind andere Faktoren wichtiger als die Geschwindigkeit, zum Beispiel eine breite Beteiligung der Bevölkerung. Gerade in beziehungsorientierten Gesellschaften sind tragende Partnerschaften nicht im Schnellverfahren aufgebaut, sondern benötigen Zeit. Weiteres zu diesem Pilotprojekt erläutern wir auf unserer Homepage.
Gibt es dann noch andere Wege, Bibelübersetzungen zu beschleunigen?
Immer häufiger arbeiten Übersetzungsteams einer Region zusammen: Sie erarbeiten sich die Exegese gemeinsam und können sich bei schwierigen Passagen gegenseitig inspirieren und helfen. Eine andere Möglichkeit ist die computerunterstützte Übersetzung, die sich auf den Bibeltext in einer verwandten Sprache abstützt. Das liefert sehr schnell einen Rohentwurf, dessen Überarbeitung dann jedoch nochmals sehr aufwendig ist. In all dem ist es uns zudem wichtig, in die Ausbildung von lokalen Mitarbeitern zu investieren. Dies braucht am Anfang zwar Zeit, beschleunigt die Arbeit jedoch über die ganze Projektdauer hinweg.
Welches sind die aktuellen Projekte von Wycliffe Schweiz?
Da gibt es zahlreiche…! Ich nenne exemplarisch drei: Erstens haben wir intern einige neue Leute im Team. Das eröffnet uns neue Möglichkeiten, erfordert aber auch den Aufwand der Einarbeitung. Zweitens haben wir uns in Zusammenarbeit mit der VBG für den grossen Bibelmarathon engagiert. Wir wollen dazu beitragen, dass unsere Begeisterung für die Bibel auch die Christen in der Schweiz ansteckt. Drittens beschäftigen wir uns mit einem Grundlagenpapier, das unser Vorgehen bei Übersetzungsprojekten überdenkt: Bisher standen oft technische Fragen im Vordergrund sowie das Ziel, eine möglichst hochwertige Übersetzung zu produzieren. Neu richten wir unser Augenmerk auch auf Fragen, wie wir die lokale Bevölkerung optimal einbeziehen, wie wir die Beziehungen gestalten und wie wir in allem die Bibel nicht nur auf Papier – respektive im Computer – sondern auch in unser eigenes Leben übersetzen können. Ein spannender und wichtiger Lernprozess, bei dem uns gerade die Geschwister aus dem Süden wichtige Impulse geben können!
Woran denken Sie da?
Ich denke zum Beispiel an den höheren Stellenwert der Gemeinschaft, der für viele Kulturen des Südens prägend ist. Für unsere individualistische Gesellschaft ist das ein notwendiges Korrektiv, denn auch in unseren Gemeinden lernen wir es verhältnismässig schlecht, den biblischen Wert des Miteinanders zu leben.
Welche Übersetzung von Wycliffe Schweiz wird als nächstes fertig und welche Geschichte steckt dahinter?
Die nächste Übergabefeier findet Ende März in einem Land Asiens statt – und zwar die ganze Bibel, AT und NT. Besonders an dieser Übersetzung ist der Umstand, dass sich ein Ehepaar weit über die Pensionierung hinaus als Übersetzungsberater für das einheimische Team zur Verfügung stellte.
An wie vielen Projekten ist Wycliffe Schweiz derzeit beteiligt und nimmt die Zahl eher zu oder bleibt sie gleich?
Es mag komisch anmuten, dass ich diese Frage nicht beantworten kann – denn was heisst «beteiligt sein»? Immer weniger sind unsere Mitarbeitenden direkt mit «nur» einer Übersetzung beschäftigt, sondern engagieren sich als Ausbildner oder Übersetzungsberater für mehrere Projekte, oder sie arbeiten im Hintergrund als Buchhalter oder Lehrkraft und dienen somit zahlreichen Projekten. Zurzeit haben wir gut hundert Mitarbeitende. Traurige Tatsache ist jedoch, dass die Beteiligung aus der Schweiz tendenziell abnimmt.
Worauf führen Sie das zurück?
Dafür gibt es wohl verschiedene Gründe. Vielleicht sind wir in der Schweiz weniger begeistert von der Bibel als frühere Generationen? Weniger überzeugt davon, dass sie wirklich die Grundlage ist für ein mündiges Christsein? Daneben könnte es auch Angst machen, dass unsere Arbeit als sehr langfristig wahrgenommen wird. Hier liegt es an uns aufzuzeigen, dass man auch mit Wycliffe sinnvolle Kurzeinsätze machen kann.
Gibt es eine Schätzung, bis wann für sämtliche Sprache, die übersetzt werden sollen, ein Projekt anlaufen wird?
Unsere weltweite «Vision 2025» will, dass genau das bis 2025 der Fall sein soll. Dies kann nur gelingen, wenn Gott das scheinbar Unmögliche möglich macht – wofür wir übrigens Beter und Beterinnen suchen. Aber auch da ist die Jahreszahl weniger wichtig als die Frage, ob wir auf dem Weg dorthin so arbeiten, dass es Gott ehrt, und möglichst alles tun, dass sein Wort eben seine Kraft entfalten kann – wie schon eingangs erwähnt.
Welche prägenden Ereignisse sind bei Wycliffe weltweit im laufenden Jahr zu erwarten?
Da das grösste Wachstum innerhalb der weltweiten Kirche im sogenannten «Globalen Süden» stattfindet, ist die Wycliffe Global Alliance darum bemüht, unseren Geschwistern von dort eine gleichwertige Stimme zu geben wie den Vertretern aus dem Westen. Das bedeutet einen gewissen «Machtverlust» für die traditionellen Wycliffe-Organisationen – wie zum Beispiel auch für Wycliffe Schweiz – dafür aber grössere Beteiligung und gewichtigeres Mitwirken von jüngeren Organisationen aus dem Süden. Der Einbezug dieser Stimmen soll es ermöglichen, unsere Arbeit möglichst nahe an den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen zu leisten, denen sie zugutekommen soll.
Zur Webseite:
Wycliffe Schweiz
Datum: 16.02.2015
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet