Neuer Gnadauer-Leiter

«Es braucht ein eindeutiges Christuszeugnis»

Steffen Kern übernimmt ab September die Leitung des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Er sieht die pietistische Bewegung im Aufbruch. Im Interview erklärt er, wie das aussehen kann und warum er die Gefahr einer politischen Vereinnahmung von rechts wahrnimmt.
Steffen Kern (Bild: EAD)

Als Sie sich im Februar der Gnadauer Mitgliederversammlung zur Wahl stellten, sagten Sie in einem Impulsreferat«Die grösste Herausforderung in den nächsten Jahren wird darin bestehen, dass wir Christenmenschen unser Christuszeugnis eindeutig, einmütig und einladend weitergeben.» Welches dieser drei Attribute ist die grösste Herausforderung?
Steffen Kern: Alle drei, das Zusammenspiel macht es aus. Es braucht ein eindeutiges Christuszeugnis. Jesus ist gekreuzigt, auferstanden und lebt. Das dürfen wir nicht verkürzen, sondern verkünden es eindeutig und klar. Genau das muss auch einmütig geschehen. Es gibt unter Christen sehr viele unterschiedliche Sichtweisen, auch innerhalb unseres Verbandes. Aber: Jesus Christus ist unser Herr und unsere Hoffnung. Das trägt uns, und das ist mehr als ein kleinster gemeinsamer Nenner. Es ist unsere Mitte. Davon lassen wir uns manchmal zu leicht ablenken. Einladend muss unsere Botschaft auch sein. Wenn wir uns verabschieden von den Kulturen unserer Gegenwart und die Andock-Möglichkeiten nach aussen verlieren, verstehen uns die Menschen nicht mehr. Heiliger Geist und Zeitgeist müssen immer zusammen im Gespräch sein.

Vom «Zeitgeist» möchten sich doch gerade fromme Menschen nicht beeinflussen lassen.
Der Begriff ist natürlich negativ besetzt. Zu Recht – wenn er das meint, was dem Heiligen Geist und der Bibel widerspricht. Aber Zeitgeist ist immer auch das, was die gegenwärtige Kultur ausmacht. Der Zeitgeist von gestern war nicht mehr oder weniger vom Heiligen Geist geprägt als der von heute. Es gibt eine Form von konservativer Haltung, die das Zeitgeistige von gestern und vorgestern idealisiert und zur guten alten und goldenen Zeit erklärt und dabei völlig übersieht, dass es schon damals antichristliche Haltungen gab. Es kommt darauf an, dass wir auf der Höhe der Zeit sind und im besten Sinne «zeitgemäss» leben, um viele Zeitgenossen anzusprechen.

Sie haben gesagt, die Existenz von Gnadau hänge davon ab, dass man neue Formen von Gemeinschaft findet, die eben auch dem Zeitgeist entsprechend die postmodernen Individualisten gewinnt und mit einbindet. Was haben Sie da konkret vor Augen?
Unsere Gesellschaft zerfällt in immer mehr Milieus. Als Gemeinschaften bewegen wir uns hauptsächlich in der bürgerlichen Mitte. Dort erreichen wir Menschen durch traditionelle Formen des Gottesdienstes und der Gemeinde. Aber viele bewegen sich überhaupt nicht mehr in diesem bürgerlichen Milieu, sondern sind im grossstädtischen Bereich zum Beispiel als die «modernen Performer» unterwegs. Oder sie sind abgehängt oder gehören zum unteren Drittel der Gesellschaft. Deswegen glaube ich, dass es mehr Gemeinden braucht, die sich bestimmten Milieus zuwenden. Jugendgemeinden, Stadtteilgemeinden, Gemeinden, wo Menschen mit Migrationshintergrund ein Zuhause finden. Dazu diakonische Initiativen und Bildungsprojekte. Wenn wir Menschen gewinnen wollen, müssen wir auch unsere Formate so anpassen, dass sie für Menschen ansprechend sind und ihnen Heimat eröffnen.

Also auch jenseits der normalen Gemeinschaftsstunden?
Genau. Ein Beispiel: In Stuttgart betreibt die Gemeinschaft das «Hoffnungshaus». Das ist eine besondere Arbeit mit der Zielgruppe Frauen, die in der Prostitution tätig sind. Dort gibt’s einen Brunch-Gottesdienst. Da gibt es keine klassische Gemeindeform. Das ist ein ganz eigenes Format für diese Zielgruppe. Wir müssen uns immer fragen: Welchen Menschen in unserer Umgebung, in unserem Ort können wir dienen? Welchen Beitrag haben wir zum Gemeinwesen zu leisten? Wenn wir so fragen, gibt es immer eine Antwort, weil Menschen immer Bedürfnisse haben.

Welche Rolle spielen dabei digitale Formate?
Eine grosse. Da brauchen wir sicherlich mehr Angebote. In der Coronazeit ist schon sehr viel entstanden an YouTube- oder Zoom-Gottesdiensten. Aber darin erschöpft es sich nicht. Die Evangelische Kirche Deutschland EKD hat in einem ihrer zwölf Leitsätze auch davon gesprochen: Wir wollen Kirche im digitalen Raum sein. Und das heisst auch, dass wir Angebote machen für Menschen, die ihren Glauben digital leben, so wie ihre sonstigen Beziehungen auch. Man kann beklagen, dass das defizitär ist. Aber wir können nicht darauf verzichten.

Ihr Amtsvorgänger Michael Diener hatte die Vision, dass Gnadau 2030 eine wachsende Bewegung ist. Wie sehen Sie das?
Diese Vision teile ich voll und ganz, weil Wachstum etwas ist, was uns in der Bibel verheissen ist. Ich gebe mich keinen Illusionen hin. Ich sehe, wie die Kirche und wir Christen insgesamt weniger werden in Europa, in Deutschland. Und trotzdem kommen Menschen zum Glauben. Es gibt Gemeinden, die wachsen. Ich kann nicht sagen: Bis 2030 haben wir so und so viele Mitglieder, dann gäbe es die Wende in der Mitgliedschafts-Kurve. Aber wir haben die Hoffnung auf ein reales Wachstum, das sich auch in Zahlen zeigt. Das halte ich fest.

Am Verhältnis der Gemeinschaften zur Kirche entzünden sich leicht Spannungen. Was ist Ihr Ziel, wie das zukünftig aussehen soll?
Wir verstehen uns grundsätzlich als eine Erneuerungsbewegung, die in die Kirche hineinwirkt. Mir ist wichtig, dass wir das bleiben. Wir würden selbst etwas verlieren, wenn wir uns von der Kirche abschneiden und uns zu einer Freikirche machen würden. Und auch Verantwortliche auf verschiedensten Ebenen der Kirche sagen mir glaubhaft: Wir brauchen die Bewegung derer, die von Herzen fromm sind und zum Glauben einladen.

Michael Diener war als Präses Mitglied im Rat der EKD. An seiner Aktivität in der Landeskirche ist innerhalb Gnadaus auch Kritik laut geworden. Sie wollen nicht für den Rat kandidieren, aber Sie sind in der Württembergischen Landessynode, in der EKD-Synode, in der Kammer für öffentliche Verantwortung. Welches Konfliktpotenzial liegt darin?
Ich bin überzeugter Pietist und genauso überzeugter Pfarrer der Landeskirche. Gerade in diesem Spannungsfeld zu verbinden und nach verschiedenen Seiten Brücken zu bauen und Türen zu öffnen, das ist mein Anliegen. Und das hat – wenn ich die Reihe der Vorgänger im Präsesamt sehe – alle gekennzeichnet: Sie waren als Pfarrer in der Kirche verankert und von Herzen im Pietismus verwurzelt. Und ja, es gibt auch Konflikte zwischen Kirche und Gemeinschaft: Gemeinschaften werden selbständiger, sind oft eigene Gemeinden und eigene Grössen. Da brauchen wir künftig sicher neue Formen der Freiheit und Zusammengehörigkeit.

Was verbinden Sie mit der neuen Präses der EKD-Synode, der 25-jährigen Anna-Nicole Heinrich?
Es ist kein Geheimnis, dass wir als synodale Arbeitsgruppe «Lebendige Kirche» die Wahl von Anna-Nicole Heinrich befördert haben. Sie ist ja Teil davon. Ich finde, das ist eine mutige Wahl. Die grosse Chance liegt nicht nur darin, dass sie jung ist, sondern dass sie einen Sinn hat für die verschiedenen Mentalitäten, die es in unserer Gesellschaft gibt. Eine ihrer ersten Aussage war: Wir müssen als Kirche raus aus unserer Bubble, aus unserer Binnenkultur, und die Türen öffnen. Sie hat eine Sensibilität für die missionarische Herausforderung. Das brauchen wir als Kirche. Das trifft sich mit dem, was ein Gnadauer Anliegen ist.

Sie fordern im Pietismus Raum für Bildung und für Wissenschaft. Aufrichtige Frömmigkeit und intellektuelle Redlichkeit schliessen sich nicht aus, haben Sie gesagt. Warum betonen Sie das?
Manchmal scheint es so, dass diejenigen, die fromm sind, einen einfachen, kindlichen Glauben haben, der weltabgewandt und intellektuell nicht ganz so auf der Höhe ist. Das wäre ein Missverständnis von Frömmigkeit. Herzensfrömmigkeit bedeutet nicht: Ich stelle den Verstand ab. Sondern: Ich glaube von Herzen, aber ich scheue überhaupt nicht die intellektuelle Auseinandersetzung, die Fragen, die sich vernunftmässig an den Glauben stellen. Ich habe das auch deshalb formuliert, weil im Gnadauer Raum in den vergangenen Jahren aus Bibelschulen Hochschulen geworden sind und wir akademisch auf wissenschaftlich anerkanntem Niveau arbeiten. Das bedeutet nicht, in bibelkritische Haltungen zu verfallen. Im Gegenteil: Wir brauchen Glauben, der den kritischen Anfragen standhält und vernünftig seine Sichtweisen formulieren kann.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Nehmen wir die Schöpfung: Ich glaube, dass Gott diese Welt geschaffen hat. Wenn nun einige Christen sagen: Das mit der Schöpfung sei völliger Humbug, die Welt sei durch Evolution entstanden – entspricht das nicht den Schöpfungserzählungen der Bibel. Es entspricht ihnen aber auch nicht, wenn andere festlegen: Gott habe die Welt in sechs 24-Stunden-Tagen geschaffen. Denn am vierten Tag erst sind laut Bibel Sonne, Mond und Sterne entstanden; für einen 24-Stunden-Tag aber braucht es eine Sonne. Das zeigt uns: Die Bibel enthält Glaubensaussagen und Wahrheiten, die durchaus einen Bezug zur Geschichte und zur Wirklichkeit haben, die also auch eine wissenschaftliche Relevanz haben, aber doch in der Wissenschaft nicht aufgehen. Da kommt der Glaube mit ins Spiel. Und deswegen gilt es, den Schöpfungsglauben zu wahren und zugleich die Welt wissenschaftlich zu untersuchen.

Sie fordern auch eine kritische Distanz zu Ideologien. Ist Gnadau dafür besonders anfällig?
Wir Menschen sind immer anfällig für ideologische Versuchungen. Der Protestantismus ist es an verschiedenen Fronten. Es gibt eine gewisse linksideologische Versuchung, die konnte man schon auf Kirchentagen buchstabieren. Da gibt es etwa Formen des Antiisraelismus, die eher von der Seite einer radikalen Linken kommen, die ich problematisch finde. Im Pietismus wie auch in der evangelikalen Bewegung sehe ich eher eine Gefährdung durch rechtspopulistische Instrumentalisierung und Politisierung. Zwar gewiss nicht im Ganzen und in der Breite hier in Deutschland – die pietistische Bewegung ist zutiefst demokratisch verankert. Aber es gibt eine Gefahr an den Rändern: Man konnte das in Amerika sehr dramatisch unter Trump beobachten. «Jesus is my Lord, Trump is my president», ist für viele zum Credo geworden. Diese Verquickung von Glaube und staatlicher Macht ist eine fatale Entwicklung. Und dass etwa drei Viertel der weissen Evangelikalen in den USA das mehr oder weniger unterschreiben, halte ich für ein Problem. In Deutschland und Europa haben wir unsere eigenen Gefährdungen, was eine politische Instrumentalisierung angeht. Da müssen wir kritisch und wachsam bleiben.

Was heisst das?
Unsere Mitte ist Jesus Christus. Wir äussern uns auch zu politischen Fragen von der Bibel her – etwa zur Ökologie, zu Gerechtigkeitsfragen, zur Medizinethik, zum Lebensschutz, etwa wenn es um assistierten Suizid oder die Fragen rund um Abtreibungen geht. Aber wir tun das nicht ideologisiert. Und wir stimmen auch nicht einfach ein in den Chor derer, die auf politischer Ebene polarisieren, sondern wir tun es sachgemäss, nüchtern, differenziert, weil Schwarz-Weiss-Antworten nicht tragen und auch biblisch-ethisch nicht zu verantworten sind.

Warum glauben Sie, dass die Evangelikalen vor allem von rechtspopulistischer Seite gefährdet sind?
Weil es in manchen Fragen vermeintlich Schnittmengen gibt. Etwa wenn wir sagen, wir halten viel von der Ehe von Mann und Frau und haben eine hohe Wertschätzung für die Institution Ehe auch im Staat. Oder wir sehen das Leben als Gabe Gottes, und sind besonders kritisch, wenn es um eine Liberalisierung des assistierten Suizids oder der Abtreibung geht. Bestimmte Parteien sagen Ähnliches, vertreten aber doch etwas ganz Anderes, etwa mit Blick auf die Fremdenliebe – die auch ein biblisches Gebot ist. Sie haben Positionen, die wir ethisch nicht teilen können, bis hin zu rassistischen Haltungen, die wir gänzlich ablehnen. Wenn das ausgeblendet wird, macht das manche möglicherweise anfällig, voreilig Nähe zu empfinden und falsche Freunde zu suchen. Aber wie gesagt: Das betrifft nur wenige. Wir sollten klar sein in ethischen und politischen Einzelfragen und zugleich wachsam gegenüber jeglichen Instrumentalisierungsversuchen. Ich wende mich entschieden gegen jede Form politischer Vereinnahmung.

Steffen Kern, Jahrgang 1973, ist Pfarrer der Württembergischen Landeskirche. Seit 2008 leitet er den Evangelischen Gemeinschaftsverband Württemberg, die Apis. Ab September übernimmt er das Amt des Präses des pietistischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Er folgt auf Michael Diener. Kern ist Mitglied in der württembergischen Landessynode sowie der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zudem gehört er der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD an, sitzt im Vorstand von proChrist und weiterer christlicher Organisationen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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Datum: 24.08.2021
Autor: Jonathan Steinert
Quelle: PRO Medienmagazin

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