«Depression sollte in der Kirche thematisiert werden»
Ich bin Pastor und leide unter Depressionen. Ich weiss, das sagt man eigentlich nicht. Nicht als Christ und schon gar nicht als Pastor. Doch tatsächlich kämpfe ich schon so lange mit Depression, wie ich denken kann. Die Schwierigkeit ist: Ich wuchs in einer Kirche auf, in der man nicht über psychische Krankheiten wie Depression spricht. Das Ergebnis ist eine grosse Unsicherheit darüber, was Depression ist und was nicht.
Echte Christen sind glücklich?
Für diejenigen von uns, die schmerzlich dunkle Zeiten kennen, scheint es oft ganz klar: Echte Christen sind glücklich. Manchmal stellte ich deshalb meinen Glauben infrage. Mache ich etwas verkehrt? Bin ich gestört? Hat meine Rettung nicht funktioniert? Habe ich Jesus irgendwo auf meinem Weg verpasst? Lange fühlte ich mich ganz allein und durcheinander, wie ein eingesperrter Leprakranker, der zu viel Angst hat, seinen Aussatz zuzugeben, damit er nicht ausgestossen wird. Erst in den letzten Jahren erkannte ich, wie weit verbreitet mein Kampf ist. Die Statistik zeigt:
- Depression ist die Krankheit, die Menschen in den Industrieländern am häufigsten beeinträchtigt. Sie raubt ihnen im Schnitt 8,39 Jahre.
- Ca. 5% der Bevölkerung im Alter von 18-65 Jahren leiden an einer behandlungsbedürftigen Depression.
- In Deutschland geht man jährlich von mindestens 9'000 Todesfällen durch Suizid aus – das sind deutlich mehr als alle Verkehrstoten. Und ein Grossteil der Suizide erfolgt im Rahmen depressiver Erkrankungen.
Depression ist eine ernste Angelegenheit. Die Kirche kann es sich nicht länger leisten, dies zu ignorieren.
Zeit für Veränderung
Ich habe bereits viele verschiedene Kirchen und Denominationen besucht. In der ganzen Zeit kann ich mich nicht an ein einziges Mal erinnern, wo Depression direkt von der Kanzel her thematisiert wurde. Das muss sich ändern! Warum? Weil Woche für Woche Menschen in unsere Gemeinden kommen, die daran leiden. Und wenn wir nicht darüber reden, dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie einsam leiden. Tatsächlich herrscht erhebliche Verwirrung über Depression. Wenn wir sie nicht ansprechen, dann werden die Leute sie weiterhin missverstehen. Und wenn wir sie missverstehen, dann machen wir alles noch schlimmer. Es ist Zeit für die Kirche, sich der Herausforderung zu stellen.
Wenn Sie wie ich mit Depression kämpfen, dann dürfen Sie folgendes wissen:
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Sie sind nicht allein
Selbst zurückhaltende Schätzungen gehen von weltweit über 120 Millionen Menschen mit Depressionen und Angstzuständen aus. Betroffen sind Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Ärzte, Anwälte, Lehrer, Unternehmer und ja: auch Pastoren. Sie kämpfen genau wie Sie. Glauben Sie nie, dass Sie allein sind.
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Ihr Glaube ist nicht zerstört
Die Geschichte ist voller aussergewöhnlicher Männer und Frauen des Glaubens, die mit Depressionen und Angstzuständen zu kämpfen hatten: Bernhard von Clairvaux, Charles Spurgeon, Martin Luther, Mutter Teresa – sie alle gingen durch ihre «dunklen Nächte der Seele». Die Bibel selbst ist voll von Beispielen. David traf immer wieder Aussagen wie diese: «Meine Gebeine sind erschrocken und meine Seele ist sehr erschrocken … Ich bin so müde vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager» (Die Bibel, Psalm 6). Jona wurde so zornig auf Gott, dass er sterben wollte (Die Bibel, Jona, Kapitel 4, Vers 3). Jeremia hielt sein Leben für so hoffnungslos, dass er den Tag seiner Geburt verfluchte (Jeremia 20,14-18). Elia war so angstbesetzt, dass er Gott bat, sein Leben zu beenden (1 Könige 19,3-4). Und trotz ihres Kampfes hatte Gott jeden von ihnen ausgesucht und gebrauchte sie auf einzigartige Weise.
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Gott ist auf Ihrer Seite und er geht mit Ihnen
Als Elia an Suizid dachte, klagte Gott ihn nicht der fehlenden Freude oder des Kleinglaubens an. Stattdessen begegnete er ihm mitten in seinem Kampf mit sanfter Gnade. Und genauso begegnet er Ihnen. Jesus sagte in der Bibel im Matthäusevangelium, Kapitel 11, Vers 28-30 : «Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.» So ist Gott zu uns. Es überrascht ihn nie, wenn wir überwältigt oder erschöpft sind. Er rechnet damit und lädt uns ein, in ihm Leben und Ruhe zu finden.
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Depression ist nicht nur eine geistliche Frage
Leider neigen Christen zu dem Fehler, gerade schwierige Probleme wie eine Depression nur geistlich behandeln zu wollen. Als Pastor bin ich ganz für eine geistliche Sicht, aber Depression ist zu komplex, um sie zu vereinfachen. Depression ist mehr als ein geistliches Problem. Sie ist auch ein physiologisches, das selbst geistlich gesunde Menschen schwächen kann. Wenn Sie als Christ mit Depressionen kämpfen, dann denken Sie nicht, sie müssten nur mehr beten, mehr in Anspruch nehmen, mehr Busse tun oder mehr glauben, um geheilt zu werden. Dies mag Teil der Lösung sein, aber wahrscheinlich werden Sie die Angelegenheit auch medikamentös und therapeutisch angehen müssen. Auch dies sind Geschenke und Ausprägungen von Gottes Gnade. Bitte ignorieren Sie diejenigen, die Ihnen deswegen Scham einreden wollen.
Wir können es uns in unseren Kirchen nicht länger erlauben, die Frage der psychischen Gesundheit zu ignorieren. Es mag für viele von uns unbekanntes Gelände sein, doch wir müssen hinein, damit wir die wachsende Zahl der Leidenden unter uns nicht missverstehen und falsch behandeln. Für manche kann dies buchstäblich eine Angelegenheit von Leben und Tod sein. Lassen Sie uns den Fragen nach psychischer Gesundheit mit einem besonderen Mass an Gnade und Demut begegnen, während wir gemeinsam versuchen, zu lieben und zu lernen.
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Datum: 02.10.2016
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / aarongloy.com