«Bilanz durchzogen»

Eine Analyse der Spätfolgen des Arabischen Frühlings

Der Arabische Frühling hat in einigen Ländern spürbare Verbesserungen für Juden und Christen gebracht. Aber auch neue Diktaturen und Terrorexport.
Arabischer Frühling in Ägypten, 2011 (Bild: Instagram)

Vor zehn Jahren hatte die Länder südlich und östlich vom Mittelmeer jene Unruhe erfasst, die wegen ihrer anfänglich demokratischen und sozialrevolutionären Motive «Arabischer Frühling» genannt wurde. Sehr bald traten diese fortschrittlichen Anliegen jedoch in den Hintergrund. Der politische Islam bemächtigte sich der progressiven Bewegung, Bürgerkriege brachen aus. Den arabischen Christen brachte das lange existenzbedrohende Nöte. Doch jetzt zeigt ihr Durchhalten auch Erfolge. Ihnen eröffnet sich nach den Arabischen Frühlingsgewittern neue Hoffnung.

Demokratisierung mit Schattenseiten

Zum Besseren hat sich die Lage politisch in Tunesien, dem Sudan und dem syrischen Kurdistan gewandelt. In Tunis, wo das Aufbegehren schon vor Jahreswechsel 2010/11 seinen Anfang nahm und bald den korrupten Diktator Ben Ali hinwegfegte, konnte sich die Demokratisierung echt und andauernd durchsetzten. Sand ins Getriebe streut ihr aber zunehmend das wirtschaftliche Unvermögen, die Lebensbedingungen der Massen übers Existenzminimum anzuheben. Die wenigen Evangelisch-Reformierten des Landes sehen sich da mit den Juden bereits wieder als Sündenböcke angefeindet.

Mitträger demokratischer Ordnung

Ein wahres «Musterländle» ist das selbstverwaltete kurdische, teils christlich-aramäische Nordostsyrien geworden. Es eifert dem Vorbild des autonomen irakischen Kurdistan nach. Dieses hat sich als einzig positives Ergebnis der US-Interventionen am Tigris von 1991 und 2003 herausgebildet. Hier wie dort wird die demokratische Ordnung von den Christen entscheidend mitgetragen.

Über beiden Autonomien hängt aber die ständige Gefahr türkischer Einfälle, da Erdogan eigenständige Kurdenstrukturen weder im Inneren der Türkei noch an ihren Grenzen zulassen will.

Demokratie und Ende der Verfolgung

Seinen wichtigsten, aber späten Erfolg hat der Arabische Frühling seit 2019 in Sudan. Dort war seit 1989 unter Omar al-Baschir eines der übelsten Islamisten-Regime an der Macht. Nicht zufällig, weil genau dort schon im späten 19. Jahrhundert der falsche Muslim-Messias «Mahdi» den Anfang mit der ganzen Politislamerei gemacht hatte.

Heute findet in Khartum ein Übergang zur vollen Demokratie statt. Die Verfolgung aller Christen, besonders der Evangelikalen,  gehört jetzt der Vergangenheit an. Aussenpolitisch krönte dieses Werk am 7. Januar der «Abraham-Vertrag» zur Aussöhnung mit Israel.

Neue Diktaturen

Im Übrigen hat das Erwachen der Araber wie in Ägypten neue Diktaturen hervorgebracht – oder in Syrien, Libyen und dem Jemen bis heute anhaltende Bürgerkriege ausgelöst. Ihre Folgen sind vor Ort grenzenloses Leid und eine seit 2016 ausufernde Flüchtlingsbewegung in Richtung Europa. Diese ist zu einer allgemeinen afro-asiatischen Auswanderungswelle angeschwollen. Dank ihr versucht das Hauptdurchgangsland Türkei, sich in Brüssel finanzielle und politische Unterstützung zu erpressen. Präsident Erdogan ist immerhin die Islamisierung Ägyptens und Syriens mit Hilfe der Muslim-Bruderschaft misslungen.

Terror-Export

Als Folge der politislamischen Umfunktionierung des Arabischen Frühlings sieht sich Europa auch mit einem Terrorexport konfrontiert. Zwar konnten die Machtergreifung der Muslim-Brüder in Kairo 2013 mit einem Militärputsch beendet und die beträchtlichen Bodengewinne des «Islamischen Staates» (IS) im Irak und Syrien 2017 mit Hilfe der USA und Russlands zurückerobert werden. Auf fruchtbaren Boden ist die IS-Parole «Fortan Einzelkämpfer all überall» jedoch in der Muslim-Diaspora gefallen, wie die Attentate in Frankreich, Deutschland und zuletzt auch Wien zeigen.

Ambivalenter Arabischer Frühling

Für die Christen im Orient war der Arabische Frühling jedenfalls ein zweischneidiges Schwert. In Ägypten, wo mit den Kopten die meisten von ihnen als einzige in Millionenstärke leben, hatte sich der schon seit 1972 wuchernde Islamistenterror während der Herrschaft der Muslim-Bruderschaft 2012/13 gesteigert. Das verschlimmerte sich sogar noch nach der Machtergreifung von General Abdel Fattah al-Sisi: Die Brüder machten die koptischen Orthodoxen für Unterstützung des Militärregimes verantwortlich. Inzwischen hat sich die Lage weitgehend beruhigt.

Ägyptens Kopten, auch die Anglikaner und Freikirchen unter ihnen, dürfen wieder heute ihre gnädigste Zeit seit dem gemeinsamen Kampf mit den Muslimen für Befreiung von der britischen Herrschaft im frühen 20. Jahrhundert erleben. In Damaskus ist die Behauptung des Assad-Regimes zwar nicht unbedingt zu begrüssen, hat aber wenigsten die syrischen Christen vor ihrer völligen Vernichtung oder Vertreibung bewahrt. Gerade in den evangelischen Gemeinden beginnt der Wiederaufbau, wenn auch die erhoffte Rückkehr von Geflohenen auf sich warten lässt.

Entlastung für Christen und Juden

Im Irak hat sich die Zuflucht von Christen aus anderen Landesteilen ins autonome Kurdistan mit der Zurückschlagung des IS aus der Ebene von Niniveh bewährt. Aber auch in Bagdad, Basra und anderen Städten sind christliche Assyrer und Chaldäer, Baptisten oder Pfingstchristen heute nicht mehr das Freiwild für Islamisten und Kriminelle, das sie nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003 jahrelang waren. Auch Israel hat der Arabische Frühling spürbare Entlastung gebracht, da seine Existenz und Expansion nicht mehr das Hauptthema aller Araber darstellen.

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Datum: 14.01.2021
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Livenet

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