Jeremias Klagelieder als Hilfe im Schmerz erlebt
«Es fühlt sich so an, als würden Himmel und Hölle zusammen in meiner Küche Kaffee trinken und sich über irgendeinen Witz amüsieren. Aber ich habe keine Ahnung, was dabei so lustig sein soll.» Äusserungen wie diese sind typisch für Aubrey Sampson. Und sie sind typisch für Menschen, die an die Grenze dessen geraten, was sie ertragen können.
Leid klopft nicht an, es überfährt einen
Wie viele andere Christen musste die Pastorin, die mit ihrem Mann gerade eine Gemeindegründungsarbeit im Grossraum Chicago begann, erfahren, dass das Leid nicht höflich anklopft. Eines Morgens wachte die Mutter von drei Söhnen auf und konnte einfach nicht mehr laufen. Natürlich betete sie dafür, die Familie und die Gemeinde wurden informiert und trugen das Ganze mit, und sie liess sich medizinisch behandeln, doch die mysteriöse Krankheit blieb mehr als ein Überraschungsgast: Sie wurde zum Dauermieter.
In derselben Zeit verschwand ihr geliebter Cousin beim Wandern spurlos und wurde irgendwann für tot erklärt. Und Aubreys jüngster Sohn entwickelte sich nicht erwartungsgemäss. Er musste am Rückenmark operiert werden und leidet darüber hinaus an lebensbedrohlichen Allergien. Monate verbrachte er im Krankenhaus.
Mitten in solchem Leid sucht man Antworten für das Unbeantwortbare, Lösungen für das Unlösbare. Aber Schmerz ist ein undefinierbarer Abgrund. Drastisch beschreibt Aubrey ihr Erleben: «Im einen Moment sagst du voll Überzeugung, dass Gott alles im Griff hat. Und im nächsten Atemzug versinkst du in Unglaube und Verzweiflung.»
Stimmen im Kopf
In einem Artikel der US-Zeitschrift «Christianity Today» beschreibt Aubrey, was sich in dieser Situation in ihrem Kopf abspielt: «Da gibt es diese Stimme in meinem Kopf…, die mir sagt, dass ich lernen muss, mit dem Leiden umzugehen, gut umzugehen.» Wie viele andere Christen fragt sie sich, was Gott sie lehren möchte. Wachsen will sie, mutig und stark sein. Und ein gutes Vorbild sein für andere.
Gleichzeitig bringt sie die Spannung fast um: «Das Böse ist böse und Gott ist gut und hat alles im Griff.» Aubrey unterstreicht: «Ich glaube nicht, dass Gott den Schmerz, das Böse oder den Tod verursacht. Aber ich verstehe nicht, warum er den Schmerz, das Böse oder den Tod nicht verhindert hat.»
Auf diese Fragen haben viele Menschen bereits sehr gescheite Antworten gegeben. Wenn das ironisch klingen sollte, dann deshalb, weil es ironisch gemeint ist. Denn so wie Millionen andere Leidende sitzt Aubrey nicht am Schreibtisch und philosophiert über das Wesen des Leids – stattdessen leidet sie, als «echte Person mit echtem Glauben und ringt mit echten Schmerzen».
Verstanden von Jeremia
Aubrey Sampson hat keine biblische Antwort auf ihr Leid gefunden. Weil es diese Antwort in wenigen Versen nicht gibt. Aber sie hat einen biblischen Leidensgenossen entdeckt, der viel zum Thema zu sagen hat und sie und andere Leidende gut versteht: Jeremia. Der alttestamentliche Prophet wird oft als «Prophet der Tränen» bezeichnet. Wer das Buch Jeremia liest, begegnet einem zutiefst zerrissenen und leidenden Menschen, der trotz allem an Gott festhält. In seinen Klageliedern singt Jeremia in Form einer damaligen Totenklage über seine Verluste und die seines Volkes. Aubrey erklärt, warum ihr Jeremia so weiterhilft, obwohl er keine Antwort hat: «Wo vorher nichts war, existiert jetzt eine unsichtbare Linie, eine Abtrennung meines Lebens in vorher und nachher. Ich will nicht so tun als ob, will nichts vorspiegeln. Aber wie lerne ich, in diesem neuen Zeitabschnitt zu leben?»
Ein göttliches «Aber»
Mitten im Buch der Klagelieder befindet sich sein längster Abschnitt. Es ist der emotionale Höhepunkt des Buches, wo der Prophet leidenschaftlich und persönlich vor Gott steht. Scheinbar ist er kurz vor dem Aufgeben, doch dann hält Jeremia entschlossen fest: «Dieses aber will ich meinem Herzen vorhalten, darum will ich Hoffnung fassen: Gnadenbeweise des Herrn sind’s, dass wir nicht gänzlich aufgerieben wurden, denn seine Barmherzigkeit ist nicht zu Ende; sie ist jeden Morgen neu, und deine Treue ist gross!» (Klagelieder, Kapitel 3, Verse 21-23).
Sein «Aber» zu Beginn ist das kraftvollste Wort der ganzen Klagelieder. Es beinhaltet keine Antwort, aber ein trotziges Festhalten an Gott, denn Jeremia unterstreicht hier, dass seine offenen Fragen letztlich keine Rolle spielen. Und wenn das Leiden nie aufhören sollte, würde er Gott doch immer anbeten!
Dieses Aber bedeutet einen Paradigmenwechsel inmitten von Klagen und Leid. Es gilt auch dann, wenn der Krebs nicht geheilt wird, wenn die Umstände sich nicht verändern, wenn Fragen offenbleiben. Timothy Keller drückt dies folgendermassen aus: «In der Dunkelheit haben wir eine Wahl, die es in besseren Zeiten so nicht gibt. Wir können uns dafür entscheiden, Gott zu dienen, allein, weil er Gott ist.»
Die Tränen bleiben
Aussagen wie die obenstehenden klingen so lange theoretisch, bis ich sehe, von wem sie stammen. Dann können sie echte Tiefe gewinnen. Es sind keine billigen Vertröstungen – sie sind durchlebt, durchschwitzt und durchweint. Am Ende der Zeiten wird Gott einmal «abwischen alle Tränen» (Offenbarung, Kapitel 21, Vers 4). Doch bis dahin bleiben uns die Tränen und das Leid erhalten. Auch als Christen.
Aubrey Sampson schreibt: «In meiner Klagereise gibt es jetzt etwas Neues: ein anderer Ausdruck von Krankheit. Meine Hände und Unterarme werden taub. Ich nenne sie meine 'toten Fischarme'. Ich werde per Elektromyografie getestet, bekomme Cortison und Physiotherapie, aber nichts hilft. Ich schätze, im Klagen gibt es immer Geheimnisse. Aber meine Hoffnung ist es nicht, krampfhaft etwas Positives zu entdecken oder die Sonnenseite zu sehen. Für mich und jeden anderen Christen geht es um das Ziel unserer Hoffnung, um den einen, den jede Klage sucht und findet, die Verkörperung all unserer Nöte: Jesus.
Aubrey Sampson stellt einen Bibelvers als Motto über ihre Webseite und ihr Leben: «Die auf den Herrn blicken, werden strahlen, und ihr Angesicht wird nicht beschämt» (Psalm 34, Vers 6).
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Datum: 17.03.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Christianity Today / aubreysampson.com