Antisemitismus

Hass, der nicht zu fassen ist

Eine Demonstration Ende Oktober in Berlin. Auch antisemitische Parolen waren zu lesen und zu hören.
Am 7. Oktober wurden 1'400 Israelis von der Hamas grausam ermordet. Dass Israel nun militärisch gegen die Hamas vorgeht, ist eine Frage der Existenz des jüdischen Staates. Trotzdem schlägt Juden weltweit eine Welle von Hass entgegen. Warum?

«Wir dachten, es könnte nicht schlimmer kommen. Doch wir mussten feststellen: Es ist schlimmer», sagt Rabbiner Jonah Sievers. An einem Abend Ende Oktober steht er in der Berliner Synagoge Pestalozzistrasse vor rund 70 Gottesdienstbesuchern. Vor ihm zwei Menora-Leuchter. Hinter und über ihm der Schrein mit der Tora und die blau-goldene Kuppel des Gotteshauses, die die Schönheit Gottes symbolisiert. Wer das Gebäude betritt, das die Synagoge beheimatet, ahnt von dieser Pracht zunächst nichts. Lediglich ein kleines Türschild zeigt an, was sich hinter den Mauern des Berliner Altbaus verbirgt. Eine Schranke mit Metalldetektor ist zu überwinden. Und ein Innenhof. Erst dann betreten Besucher die Synagoge. Nur so ist es für die Gemeindeglieder sicher.

Gemeinsam heben Juden und ihre Gäste aus Kirchen, Politik und Zivilgesellschaft zu einem der vielen Lieder an, die an diesem Abend auf Hebräisch gesungen werden. Der Blick mancher mag beim Singen zu dem Schild wandern, das neben Sievers als Mahnung und Erinnerung an der Wand der Synagoge hängt: «Zerstört November 1938». In der Reichspogromnacht brannte auch die Synagoge in der Pestalozzistrasse. 1947 öffnete sie erneut. Dieser Tage fühlen sich viele Gemeindeglieder zurückversetzt in eine Zeit, die mancher vielleicht überwunden glaubte.

Denn in der Nacht zuvor flogen zwei Molotowcocktails in Richtung einer anderen Berliner Synagoge. Sie brannten auf dem Gehweg aus. Doch das, wofür sie stehen, reisst wohl ebenso tiefe Wunden, wie es ein erfolgreicher Brandanschlag hätte tun können. Die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf, aber eines ist klar: Juden fühlen sich in den Strassen Berlins nun noch weniger sicher als in den Jahren zuvor. Dass jüdische Einrichtungen standardmässig unter Polizeischutz stehen und man in bestimmten Strassen der Stadt besser die Kippa abnimmt, ist keine Neuigkeit. Anschläge und judenfeindliche Parolen im alltäglichen Grossstadtzirkus sind es schon.

Demonstrationen in Berlin

Kurz nach dem bestialischen Terroranschlag der Hamas auf den Kibbuz Be’eri und andere israelische Ortschaften am 7. Oktober, protestierten tausende Unterstützer der Palästinenser illegal am Potsdamer Platz gegen Israel. Es kam zu mehr als 150 Festnahmen. Am Freitag zuvor waren viele dem Aufruf der Hamas zu einem «Tag des Zorns» gegen Israel und Juden weltweit gefolgt. Im Stadtteil Reinickendorf zündeten Demonstranten eine am Rathaus gehisste Israelflagge an. Flaschen flogen, es kam zu Festnahmen, hunderte Polizisten waren in der ganzen Stadt im Einsatz. In der Synagoge Pestalozzistrasse spricht Rabbi Sievers wenige Tage später über die Angst, die viele Juden haben. Er ruft sie dazu auf, weiterhin jüdische Veranstaltungen zu besuchen. «Wir dürfen der Hamas diesen Sieg nicht schenken!», sagt er.

Ende Oktober, Oranienplatz in Kreuzberg. Mehr als 11'000 Menschen sind zusammengekommen, um lautstark gegen Israel zu demonstrieren, den jüdischen Staat zu diffamieren oder ein Ende der deutschen Erinnerungskultur zu fordern. «Kindermörder Israel» oder «Free, free Palestine» grölt es regelmässig aus der Masse. Dazwischen ertönen von der offenen Ladefläche eines Transporters Redebeiträge auf Deutsch, Englisch und Arabisch, in denen Israel eines Genozides an den Palästinensern beschuldigt wird. Direkt vor dem Transporter weht ein Meer aus palästinensischen Fahnen. Dazwischen sind Schilder zu sehen, die Aufschriften wie «Ende der deutschen zionistischen Staatsräson» oder «Stoppt den Genozid» tragen.

Zweierlei Mass

Es sind Szenen, die sprachlos machen angesichts der Angriffe der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober. Sie haben Menschen ermordet, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt, verbrannt, weil sie Juden sind. Darunter Frauen, Greise und sogar Babys. Eine Verurteilung dieser barbarischen Taten ist auf «Pro Palästina»-Demos die Ausnahme.

Der «Welt»-Journalist Dirk Schümer listete in einem beissend ironischen Kommentar auf, wogegen Muslime eigentlich demon­strieren müssten: Gegen Chinas kommunistische Regierung, die 1,5 Millionen Uiguren, eine muslimische Minderheit in China, in «Umerziehungslagern» interniert hat; gegen die «meist saudi-arabischen Angriffe gegen die schiitischen Huthi-Milizen und die Zivilbevölkerung im Jemen» mit 400'000 Toten, gegen die Unterdrückung von 1,2 Millionen muslimischen Rohingya in Myanmar. Muslime werden tatsächlich aufgrund ihres Glaubens verfolgt, zum Beispiel in China, in Myanmar. In vielen Ländern der Welt. Stattdessen richten sich die Demonstrationen ausschliesslich gegen Israel. Der Grund dafür liegt nahe: Hass auf Juden.

Das bestätigt der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi. Er hat im Mai, Monate vor dem 7. Oktober, ein Buch mit dem Titel «Die Juden im Koran» veröffentlicht. Ourghi, selbst Muslim, hat vorher schon Drohungen bekommen. Doch danach wurde es noch schlimmer. «Inzwischen darf ich aus Sicherheitsgründen nicht mal mit meiner Familie durch die Stadt gehen.» Im Gespräch mit PRO wirkt Ourghi ruhig, um Versöhnung bemüht. Um klare Statements ist er trotzdem nicht verlegen. «Zu den Feinden der Juden gehören nicht nur Rechtsextremisten, sondern auch Muslime mit Migrationshintergrund.»

In seinem Buch verteidigt Ourghi Israel. «Und die Hamas ist keine Befreiungsbewegung, sondern eine Terrororganisation. Was sie getan hat, ist unmenschlich. Das ist ein Fakt. Ich kenne Muslime, die das auch so sehen. Aber sie haben Angst, das öffentlich zu sagen. Und die Angst ist leider berechtigt.»

Woher kommt der Antisemitismus?

Der Hass auf Juden hat laut Ourghi seine Wurzeln nicht etwa im Nahostkonflikt seit 1948, als der Staat Israel gegründet wurde und viele dort sesshafte Araber vertrieben wurden. Auch sei er kein aus Europa importiertes Phänomen. Vielmehr entspringe er der Religion selbst: «Judenfeindschaft und Antijudaismus im Islam sind religiös motiviert und finden ihre Legitimation in den muslimischen kanonischen Quellen, zum Beispiel im Koran.»

Das macht der Islamwissenschaftler auch an den Aussagen und Taten des Propheten Mohammed fest. In Mekka sei er tolerant und friedfertig gewesen, habe das Gespräch gesucht. Später, in Medina, sei Mohammed ganz anders aufgetreten. «Ab 624 werden die Juden als ‚Ungläubige‘ bezeichnet, über die der Fluch Gottes komme, wenn sie sich nicht zum Islam bekennen.» Zwei von drei jüdischen Stämmen habe Mohammed laut Koran vertrieben, der dritte sei massakriert worden. «Etwa 600 bis 900 Männer wurden exekutiert und ihre Besitztümer unter den Muslimen verteilt. Das Leben der Juden in Medina wurde einfach ausgelöscht.»

Juden hätten laut Koran den Bund mit Gott «gebrochen und stünden in Sünde und Übertretung der göttlichen Gebote». Ourghi verweist auf Koranstellen, nach denen Juden die «Irregehenden» seien, «ihre Herzen seien härter als Steine, und sie seien dem Zorn Gottes verfallen». Besonders diffamierend findet Ourghi die Koranstelle, nach der Gott die Juden zu «abscheulichen Affen werden liess, nachdem sie sich über das Sabbat-Gebot hinweg gesetzt hatten». Diese Stellen dürfe man nicht einfach ignorieren. Stattdessen fordert Ourghi, der auch einer der Mitbegründer der liberalen Ibn-Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin ist, von Muslimen eine kritische Lesart des Islam. Muslime müssten auch das politische Handeln Mohammeds kritisieren dürfen. Bis dahin scheint es noch ein langer Weg zu sein. Weil Ourghi seine Meinung öffentlich äussert, wird er von Muslimen als «Kāfir», als «Ungläubiger» diffamiert. Ourghi will, dass Muslime, Juden, Christen und alle anderen in Frieden miteinander leben. «Aber ich sag’s Ihnen: Wenn der Nahostkonflikt politisch gelöst ist, bedeutet das noch längst nicht das Ende des islamischen Antisemitismus.»

Erfahrungen bei der «Arche»

Dass das stimmen könnte, zeigt ein Blick in die «Arche»-Einrichtungen in Berlin: «Zuerst schneiden wir den Juden die Kehle durch, dann den Schwulen und zum Schluss den Christen!», zitiert die «Bild»-Zeitung einen Jungen aus einer Einrichtung des christlichen Kinderhilfswerks «Die Arche». «Dieser Satz ist bei uns von arabischen Jugendlichen gefallen, und das ist kein Einzelfall», so Sprecher Wolfgang Büscher. «Kinder und Jugendliche radikalisieren sich immer stärker. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wir stehen vor einer Katastrophe.» Nach dem Massaker der Hamas hätten einige Jugendliche gesagt: «Bald gehört Deutschland uns.» Büscher sieht kaum Chancen, bei den älteren Jugendlichen noch etwas zu erreichen. «Sie lehnen unsere Kultur, unsere Werte ab. Der Hass ist unvorstellbar.» Die Journalisten der «Bild»-Zeitung berichten, Jugendliche hätten während des Foto-Termins mit Büscher den Gruss der islamistischen Terror-Miliz «Islamischer Staat» gezeigt. Was tun mit so viel Hass, der sogar denen entgegenschlägt, die aus christlicher Nächstenliebe helfen wollen?

PRO trifft Rabbi Sievers an einem anderen Tag in seinem Büro unweit des Bahnhofs Zoo. Vor der Tür bauen Polizisten gerade Absperrungen auf, die die Einrichtung schützen sollen. Zusätzlich zu den Wachposten vorm Hof, dem Metalldetektor, durch den jeder muss, der das Gebäude betreten will. Und die Taschenkontrolle. Das ist Alltag für Juden in Berlin. Doch nun haben die Sicherheitsmassnahmen nochmals angezogen.

«Es ist eine andere Dimension», sagt Sievers. Er ist bemüht, nicht zu emotional zu sein, spricht leise, gefasst. Was macht diese neue Dimension aus? «Dass die Leute plötzlich wieder denken, sie könnten sich öffentlich trauen, gegen Juden zu hetzen», sagt er. Es sei von vielen sozial akzeptiert, besonders aus der muslimischen Community.

Umso heftiger formuliert Sievers seine Kritik an den Islamverbänden in Deutschland, die wenig entschieden und zögerlich ihre Ablehnung der Hamas-Gewalt äusserten. «Es geht doch hier nicht nur um uns Juden. Es geht um jeden, der in Freiheit leben will. Wir sind nur die ersten, die es trifft», sagt er und berichtet von einer Bekannten, deren Wohnhaus in Berlin mit einem Davidstern beschmiert wurde. Markiert genauso, wie im Dritten Reich jüdische Geschäfte gekennzeichnet wurden. Sie war nicht die Einzige, der das in Berlin geschah, Fotos machten in den sozialen Medien die Runde. «Das Schlimmste dabei ist: Diese Frau ist gar keine öffentliche Person. Wer wusste, wo sie wohnt? Wer kann das getan haben?», grübelt Sievers. Wie es ihm damit geht? «Es macht sich ein leeres Gefühl breit», sagt er und hat nichts hinzuzufügen.

Dennoch bleibt er bei dem, was er schon in der Synagoge sagte: «Angst, Wut und Hass dürfen unsere Herzen nicht vereinnahmen.»

Dies ist der erste Teil des Artikels, der zuerst beim PRO Medienmagazin erschienen ist. Hier können Sie den vollständigen Artikel lesen.

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Datum: 11.12.2023
Autor: Anna Lutz, Martin Schlorke und Nicolai Franz
Quelle: PRO Medienmagazin

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