Wenn man den eigenen Glauben vergisst
Kann Demenz dazu führen, dass Menschen, die früher
Christen waren und an Gott glaubten, dies mit einem Mal komplett vergessen?
Uli Zeller: Wenn eine
Demenz entsprechend weit fortgeschritten ist, können Betroffene keine Aussage
mehr darüber machen, woran sie sich erinnern können. Von aussen kann das auch
niemand beurteilen. Ich gehe davon aus, dass Menschen ihren Glauben vergessen
können. Aber dann geht es beim Vergessenen wohl eher um sowas wie eine «äussere
Schicht des Glaubens», also um Verhaltensweisen oder Dinge, die man gelernt
hat. Aber ich bin zuversichtlich, dass eine «innere Schicht des Glaubens»
bleibt. Bis zuletzt. Ich bin davon überzeugt, dass nicht ich den Glauben tragen
muss, sondern dass der Glaube mich trägt. Also selbst wenn ich dement werde,
gilt mir doch noch die Zusage Jesu: Niemand wird dich aus Gottes Hand reissen
(Johannesevangelium, Kapitel 10, Vers 28).
Wie gehen Sie im Gespräch mit einem Menschen um, der
seinen Glauben oder Gott vergessen hat?
So, wie ich ansonsten
auch mit nicht-dementen Menschen umgehe, die etwas vergessen haben. Ich versuche,
sie daran zu erinnern. Aber dies, ohne ihre Erinnerungslücken blosszustellen.
Bei Menschen mit Demenz habe ich gute Erfahrungen mit Geschichten gemacht, die
dazu einladen, die Lücken zu füllen. Oder mit Gebeten, die zum Mitbeten
einladen.
Was raten Sie Angehörigen oder Besuchern in so
einem Fall? Gibt es Dinge, die man tun kann, um dem Demenzkranken zu helfen?
Überfordern Sie Ihr
Gegenüber nicht. Weniger ist manchmal mehr. Seien Sie einfach mal nur da. Lesen
Sie ein bekanntes Kirchenlied vor. Oder singen Sie gemeinsam, wenn Sie gern
singen. Lesen Sie eine einfache Geschichte vor, in der aber nur wenige Personen auftreten, ohne komplizierte
Nebenhandlungen. Oder bringen Sie
Gegenstände mit, die Ihr Gegenüber betrachten oder betasten kann. Oder etwas,
an dem er riechen oder schmecken kann. Halten Sie auch nur mal seine Hand und
sagen nichts. Legen Sie mehr Wert auf Gefühle als auf Fakten. Viele weitere
Tipps finden sich auch in meinem Buch «Menschen mit Demenz begleiten, ohne sich zu überfordern.
Ein Ratgeber für Angehörige».
Besteht die Möglichkeit, dass etwa christliche
Lieder oder bekannte Bibelstellen in dem Demenzkranken eine Erinnerung
auslösen?
Ja. Wie viele Strophen «Grosser
Gott wir loben dich» oder «Nun danket alle Gott» haben, merkte ich erst, als
ich mit dementen Menschen diese Lieder gesungen habe. Und wenn man die Menschen
ein wenig kennt, merkt man ja auch, wenn es ihnen gut tut, dass sie dabei
entspannen, wie sich das Gesicht aufhellt...
Sie arbeiten als Seelsorger in einem Altenheim.
Veranstalten Sie besondere Gottesdienste für und mit Demenzkranken?
Ja. Es gibt darin keine
lange Predigt. Im ganzen Gottesdienst gibt es immer wieder Abwechslung, etwas
zum Anschauen oder zum Betasten. Dazu Dinge, die die Zuhörer auswendig kennen,
zum Beispiel das Vater unser oder das Glaubensbekenntnis. Das ermutigt sie,
weil die Leute merken: Ah, das kann ich ja noch. Und eben Gegenstände: An
Weihnachten eine Weihnachtskrippe, und an Ostern ein Kreuz. Diese Gegenstände
kann ich auch während des Gottesdienstes einmal den Zuhörern in die Hand geben.
Dazu verwenden wir keine Liederbücher, weil das Blättern nicht mehr jedem
möglich ist. Ich habe einzelne Zettel, auf denen die Lieder stehen; pro Lied
ein Blatt, nur auf einer Seite bedruckt. Natürlich im Grossdruck. Diese
Liedzettel verteilen wir vor jedem Lied – und sammeln sie auch nach jedem Lied
wieder ein. Das bedeutet zwar, dass wir vor und nach jedem Lied eine
Unterbrechung von vielleicht einer Minute haben. Aber die Zeit des Verteilens
und Einsammeln der Blätter kann ich ja auch bewusst nutzen, um persönlichen
Kontakt zum Zuhörer aufzunehmen. Augenkontakt zum einen – oder dem anderen mal
über die Hand streichen.
Was ist Ihnen persönlich als Christ besonders
wichtig im Umgang mit demenzkranken Menschen?
Mir ist besonders
wichtig, dass jeder Mensch Person ist – bis zuletzt. So wie ja auch ein
Säugling eine Person ist, die seine Bedürfnisse, Ängste und Sorgen hat, so ist
es auch ein Mensch, der dement ist. Auch wenn er es nicht äussern kann.
Zur Person
Uli Zeller ist Seelsorger
in einem Altenheim in Singen und Autor. Jede Woche veröffentlicht er eine Kolumne, in welcher er Tipps zum Umgang mit Menschen mit Demenz gibt oder aus seinem
Alltag erzählt. Alle Bücher von Uli Zeller sind hier erhältlich.
Zum Thema:
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Datum: 09.02.2019
Autor: Rebekka Schmidt
Quelle: Livenet