Glaube verändert sich

Warum ich Senfkörner mag

Senfkörner
Christiane Henrich ist in einer frommen Umgebung aufgewachsen, in der sie sich aber auch oft fremd fühlte. Bis sie dachte, gar nicht mehr glauben zu können... Hier beschreibt sie ihren etwas komplizierten Weg zum erwachsenen Glauben.

Mein Glaube hat sich verändert. Nach und nach – und dann irgendwann auch mit einem grossen Knall. Von Kindheit an hatte ich immer wieder gehört: «Es ist wichtig, dass man im Glauben wächst.» Ich verstand das so: Glaube fängt klein an (bei mir schon früh in meiner Kindheit) und wird im Lauf der Zeit immer grösser, genauso wie ich. Und es implizierte: Irgendwann – vielleicht, wenn man alt ist und kurz bevor man stirbt, oder, bei besonders frommen Menschen, auch schon früher – ist der Glaube «ausgewachsen», also bei einer gewissen Perfektion angekommen.

Bei mir war das anders. Obwohl ich von vielen liebevollen Menschen umgeben war, die mir immer wieder erklärten, wer Gott ist und wie das mit dem Glauben funktioniert, hatte ich nicht den Eindruck, dass mein Glaube wuchs. Meine Beziehung zu Gott war, gelinde gesagt, angespannt. Ich strengte mich an, alles richtig zu machen, Gott liebzuhaben, in der Bibel zu lesen, zu beten. Aber bei mir funktionierte das alles nicht so wie bei scheinbar allen anderen in der Gemeinde. Ich spürte Gottes Nähe und Liebe nicht, sondern hatte eher Angst vor ihm. Viele Bibelgeschichten kannte ich in- und auswendig, aber sie hatten mir nicht viel zu sagen. Und ich hatte jede Menge Fragen. Auf die meisten bekam ich Antworten und Ratschläge – die immer gleichen. Viele davon empfand ich alles andere als zufriedenstellend.

Irgendwann, kurz vor dem Teenageralter vermutlich, hörte ich auf, Fragen zu stellen, und kam zu dem Schluss, dass mit mir etwas nicht stimmte. Offensichtlich war ich nicht in der Lage, so wie die anderen an Gott zu glauben. Ich fühlte mich als Versagerin, zog mich innerlich mehr und mehr zurück und fand mich damit ab, dass der Beziehungsstatus zwischen Gott und mir wohl immer lauten würde: «Es ist kompliziert.» Ich bemühte mich trotzdem weiterhin, mein «christliches» Leben zu führen, und engagierte mich in der Gemeinde, denn eigentlich fand ich es ja gut, an einen liebevollen Gott zu glauben…

Der schleichende grosse Knall

Zeitsprung, viele Jahre später, ich war in meinen Vierzigern. Mein Glaube hatte sich im Lauf der Jahre verändert, ich hatte vorsichtig begonnen, einzelne Überzeugungen, die mir beigebracht worden waren, zu hinterfragen und mich von einigen auch zu verabschieden. Aber das geschah nur sehr punktuell. Ob andere (oder ich selbst) das als Glaubenswachstum bezeichnet hätten?

Dann kam der grosse Knall. Eigentlich kam er schleichend und pirschte sich über einen längeren Zeitraum an. Aber als ich mir zum ersten Mal bewusst eingestand, in welcher Verfassung und Situation ich mich befand, fühlte sich das in meinem Inneren wie eine Explosion an: Ich konnte nicht mehr. Nicht mehr in Gottesdienste gehen. Nicht mehr beten. Nicht mehr in der Bibel lesen. Keine frommen Lieder mehr singen. Nicht mehr an Gott glauben.

Dass ich in einem christlichen Unternehmen arbeitete, wo meine Hauptaufgabe darin bestand, als Zeitschriften-Redakteurin Kindern den Weg zum Glauben an Gott zu ebnen, und ich mir umso mehr als Versagerin vorkam, machte die Sache zusätzlich kompliziert. (Dass ich es in meinem Job überhaupt nicht als Last empfand, mich mit Gott und der Bibel auseinanderzusetzen, und dass es dafür gute Gründe gab, fiel mir erst deutlich später auf – aber das wäre Stoff für einen anderen Artikel.)

Die folgenden Jahre waren alles andere als schön oder einfach. Aber ich hatte ein paar Familienmitglieder und gute Freunde, mit denen ich reden und auch diskutieren konnte, einen Pastor, der sehr gelassen auf meine Verzweiflung und Tränen reagierte, und eine Coachin, die m­ich ­begleitete und mir Mut machte. Das gab mir ein bisschen Gelassenheit, diese geistliche «Pause» auszuhalten. Und dann kam irgendwann das Senfkorn ins Spiel.

Eine winzige Sehnsucht

Darüber sagt Jesus mal zu seinen Freunden und Schülern: «Wenn euer Glaube nur so gross ist wie ein Senfkorn, […] wird für euch nichts unmöglich sein» (Matthäus Kapitel 17, Vers 20; BasisBibel). Irgendwann spürte ich, dass da wieder etwas war – eine kleine Sehnsucht, eine winzige Offenheit meiner Seele, mich wieder aktiv mit Gott auseinanderzusetzen. Ein kleines bisschen Glaube, so klein wie ein Senfkorn. Für Jesus reichte das offensichtlich, also würde es vielleicht auch für mich reichen. Ich redete zum ersten Mal seit langer Zeit mit Gott und fragte: «Wie kann es sein, dass so viele Menschen um mich herum begeistert sind von der Bibel und ihren Geschichten, während ich sie immer als langweilig empfunden habe? Es muss doch auch für mich den passenden Zugang geben. Bitte zeig ihn mir.»

Mein Glaube, dass das tatsächlich passieren würde, war auch nur senfkorngross. Zu lange hatte ich mit meinem Bibelfrust gelebt. Aber eine Weile nach meinem Gebet passierte es: Ich entdeckte nicht einen, sondern gleich zwei völlig unerwartete Wege in die Bibel. Ich lernte die kreative Methode des «Bible Art Journaling» kennen, bei der man in einer Bibel einzelne Geschichten, Verse oder auch Wörter kreativ gestaltet, und merkte schon bei der ersten Bibelstelle, die ich in Angriff nahm, dass diese Art des Bibellesens mir den Kopf freipustete und der Text auf neue Weise zu mir sprach. Der zweite Weg war die Bibelübersetzung «Das Buch» als Hörversion, mit der ich mich auf langen Autofahrten zusammenhängend durch die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Psalmen hörte. Die oft etwas ungewöhnliche Übersetzungsweise schrieb mir manche Geschichten und vor allem grössere Zusammenhänge ebenfalls auf neue Weise ins Herz. Und so ging ich wieder erste Schritte auf Gott zu – zum ersten Mal in meinem Leben auf eine Weise, die nicht andere mir beigebracht hatten, sondern die wirklich mir entsprach.

Wachsen und schrumpfen

Und heute? Heute ist meine Beziehung zu Gott definitiv nicht perfekt. Aber sie ist authentischer und in diesem Sinne auch tiefer und gehaltvoller geworden als jemals vorher. Es gibt immer noch Sehnsuchtsbereiche, bei denen ich mich freuen würde, Gott auf neue Art zu erleben. Aber ich weiss jetzt endlich, dass es meine Beziehung zu ihm ist und nicht die, die sich andere für mich gewünscht und vorgestellt haben.

Bis heute rede ich nicht mehr so gerne vom Glaubenswachstum. Glaube verändert sich meiner Erfahrung nach nicht durch ständiges lineares Wachsen hin zum «ausgewachsen Glauben», zu einer Perfektion, die es nie geben wird. Glaube entwickelt sich eher in Phasen. Ein «Mini-Kind» muss nicht zwangsläufig einen Miniglauben an Gott haben. Im Gegenteil, Jesus stellt seinen Freunden Kinder sogar als Vorbilder vor (Matthäus Kapitel 18, Verse 1-5). Offensichtlich ist es völlig normal, dass dieser Glaube im Lauf des Lebens mal grösser und mal kleiner ist und bei manchen von uns irgendwann auch so richtig erschüttert wird und auf Senfkorngrösse schrumpft. Das war schon bei den Schülern von Jesus so (siehe die oben erwähnte Bibelstelle in Matthäus 17). Ich stürze in massive Zweifel, und mein Senfkornglaube führt mich tief an einen Punkt der Demut, weil ich im wahrsten Sinne des Wortes verzweifelt spüre, dass ich meinen Glauben nicht «machen» kann, sondern von Gott abhängig bin. Und wenn ich es zulasse, fängt Gott mich hoffentlich irgendwann auf, zieht mich wieder zu sich und führt mich in ein grösseres Vertrauen zu ihm.

Aber es geht auch nicht nur darum, dass Glaube «wächst» oder «schrumpft», sondern dass meine Beziehung zu Gott sich im Laufe der Jahre immer wieder verändert. Mein Bild von Gott erweitert sich an manchen Stellen, an anderen verengt es sich vielleicht. Ich lerne dazu, werde reifer, gewinne an Erfahrung mit Gott und Menschen. Die Art, wie ich heute glaube und mit Gott in Beziehung bin, ist nichts Starres, Unbewegliches, sondern kann und darf sich verändern. Dass dabei auch manche Glaubensüberzeugungen über Bord gehen, die mir beigebracht wurden, gehört für mich dazu. Ich habe erlebt, dass manche Menschen, die eine sehr konkrete Vorstellung davon haben, wie Glaube ist oder sein sollte, das nicht gut aushalten können. Aber Gott, davon bin ich heute überzeugt, hält mein Suchen und Finden, mein Entfernen und Zurückkommen aus. Und das ist für mich sehr befreiend.

Die Fragen liebhaben

Heute habe ich immer noch Fragen – viel mehr als Antworten. Das steckt eben auch in der Senfkorngrösse: Sie bietet die Chance zum Hinterfragen, zum Neustart, dazu, sich Gott neu zu stellen und auszuliefern und ihn auf neue Weise kennenzulernen. Heute vergrabe ich mich immer wieder gerne in Bücher und Podcasts, um mehr herauszufinden über die Welt zur Zeit der Bibel, über die damalige jüdische Kultur und Gesellschaft und Politik, um zu verstehen, warum zum Beispiel Abraham nicht entsetzt (das heisst, eigentlich überhaupt nicht) reagiert, als Gott von ihm fordert, seinen Sohn zu opfern, oder wieso Jesus immer wieder Texte aus dem heutigen Alten Testament zitiert (zum Beispiel den Begriff «Menschensohn») und was seine damaligen Zuhörer dann verstanden, ohne dass er es explizit aussprechen oder erklären musste.

Und die Momente, in denen ich wieder etwas Neues gelernt, einen Zusammenhang entdeckt habe, in denen fühle ich mich Gott besonders nah. Da geht’s um Wissen, das mir hilft, die Inhalte der Bibel besser zu verstehen – einer meiner wichtigsten Zugänge zu Gott und zur Bibel. Aber die wirklich grossen Fragen meiner Gottesbeziehung – wie ist Gott wirklich? Wie geht das mit dem Glauben? Was ist der Sinn unseres Lebens? Wo genau gehen wir mal hin? und viele andere –, diese Fragen bleiben.

Der Poet Rainer Maria Rilke hat in seinem Gedicht «Über die Geduld» (1903) geschrieben:

Man muss Geduld haben
mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

Die Fragen selber liebhaben – diesen Gedanken finde ich schön. Ich habe gelernt, meine Fragen über Gott liebzuhaben und nicht immer eine Antwort haben zu müssen, die für alle Menschen gleichermassen passt. Denn genauso individuell, wie Gott uns gemacht hat, sind auch unsere Fragen. Fragen zu haben bedeutet, dass es da noch Geheimnisse gibt, die es sich zu lüften lohnt. Und nur so kann auch Gott selbst ein Geheimnis bleiben. Denn wenn er das nicht wäre – wäre er dann Gott? Es ist ja schon ein Geheimnis an sich, dass sich dieser grosse Gott manchmal in einem klitzekleinen Senfkorn versteckt.

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Zum Thema:
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Erziehen oder ziehen lassen?: Wie junge Erwachsene zum eigenen Glauben finden
Nicht einseitig, aber hilfreich: Was ist eigentlich Glaube?

Datum: 02.03.2025
Autor: Christiane Henrich
Quelle: Magazin Aufatmen 01/2025, SCM Bundes-Verlag

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