Mut zum reformierten Experiment
Durch ihre Verschiedenheit weckten «fresh expressions of church» (frische Ausdrucksformen von Kirche) die Frage nach dem Gemeinsamen und Verbindenden, sagte Lings bei einem Empfang der Zürcher Landeskirche am 3. November. Allerdings seien – bei so viel Überraschendem – Fehler und Abstürze nicht zu vermeiden. Der Forschungsleiter des kirchlichen Thinktanks «Church Army» in Sheffield verfolgt die Entwicklung der anglikanischen «fresh expressions» seit den 1990er Jahren. Auffällig ist für ihn, dass sich Menschen an diesen Orten einfinden, die von herkömmlichen Gemeinden gelangweilt sind oder der Kirche ganz fern stehen. Und fast die Hälfte der über 1'000 Gemeinschaften in der Church of England wird von Nicht-Theologen geleitet.
Starten – wie bei der Heirat
Kirche müsse so einfach gestaltet werden, dass diese Leute nicht ausbrennten, sagte Lings, und sie bräuchten angemessene Schulung. David habe mit Sauls Rüstung nicht gegen Goliath antreten können. Der Brite machte Mut zum Experiment: «Es ist in Ordnung, zu starten, ohne zu wissen, was passieren wird.» Das sei bei jeder Heirat so. Viele fresh expressions gehen ein – «dann haben wir es immerhin versucht. Wir glauben, dass Gott in dieser Geschichte ist – er hat uns nicht verlassen.»
Über den Zaun hinaus denken
Der Empfang am Abend des 3. November folgte auf eine gutbesuchte erste Tagung der Landeskirche zum Thema. In der Diskussion erinnerte IGW-Rektor Fritz Peyer an die Schweizerische Evangelische Synode SES. Schon in den 1980er Jahren habe man diskutiert, wie reformierte Gemeinde anders als durch politische Grenzen bestimmt werden könnte. Peyer wünschte der Landeskirche, dass sie vielfältige Gemeindeverständnisse zulässt. Für Pfarrerin Sabrina Müller, die sich ihrer Doktorarbeit mit englischen «fresh expressions» befasst, behält die Ortsgemeinde ihre Bedeutung.
In vitale Gemeinschaften investieren
Laut George Lings zeigen die Erfahrungen in England, dass herkömmliche Gemeinde und neue Gemeinschaften sich überlappen. Die allermeisten «fresh expressions» sind in bestehenden Kirchgemeinden entstanden, indem Christen Neues lancierten, etwa eine messy church (lockere Spiel- und Gottesdiensttreffen für Familien mit kleinen Kindern). Der Brite mahnte, bei den Kosten für Personal und Infrastruktur der Kirchgemeinden nicht die Förderung von Pionieren zu vergessen. Laut Matthias Krieg, dem theologischen Sekretär des Zürcher Kirchenrats, muss die Landeskirche nicht auf Territorialität achten, sondern auf Vitalität setzen, wenn sie ihre Investitionen plant. «Wo ist Potenzial für neue Aufbrüche?»
Andere Aufgaben für Leiter
Fritz Peyer sieht grosse Herausforderungen für die Ausbildung: Kirchlich Mitarbeitende müssten geschult werden, fresh expressions als Prozess zu denken. Matthias Krieg zeigte sich beeindruckt vom hohen Engagement vieler, das er bei Besuchen in England erlebte: «Je vitaler eine Community, desto mehr beteiligen sich Menschen, desto weniger lastet auf dem Pfarrer.»
George Lings betonte: «Vertrauen, Beziehung, Verantwortlichkeit und der Wille, zueinander zu gehören, sind sehr wichtig.» Er deutete an, dass Pfarrer auch in der Church of England ihre Aufsichtsaufgabe zu kontrollierend wahrgenommen haben. «Heute sagen einige ihren Leuten: Ihr wollt Kirche – ihr macht sie.» Es gelte, die Pioniere vor den Bedenken und dem Argwohn der Traditionalisten zu schützen. «Die wenigen schaffen die Unruhe, die uns Not tut.» Friedhofruhe könne das Ziel nicht sein. «Wahrscheinlich sind wir zu furchtsam.»
Datum: 17.11.2012
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet