«Ich musste immer stark sein»
Wer mich sieht, 1,80 Meter gross und kräftig, der weiss: diese Frau kann zupacken. Und der erste Eindruck täuscht nicht. Ich erkenne, was getan werden muss und fasse überall mit an. Stark sein – das fasst mein Leben zusammen. Allerdings hat der Begriff Stärke in der letzten Zeit eine ganz neue Bedeutung für mich gewonnen.
Warum ich stark werden musste
Ich wurde 1951 in Ehrenfriedersdorf im Erzgebirge geboren. Meine Kindheit erlebte ich als behütet, zum Teil überbehütet, weil meine Mutter grosse Angst um mich hatte. Durch unseren landwirtschaftlichen Betrieb war ich hauptsächlich mit Erwachsenen zusammen und Arbeit war ein selbstverständlicher Teil meines Tages. In der Schule war ich eine Einzelgängerin. Meine Noten waren nie besonders berauschend. In diesem Umfeld entwickelte ich Ehrgeiz. Ich wollte vor nichts Angst haben, ich wollte allen Anforderungen an mich gerecht werden – ich wurde stark.
Zu dieser Zeit nahmen meine Oma und meine Mutter mich gern zum Gottesdienst oder zu christlichen Kinderveranstaltungen mit. Als ich 14 wurde, lernte ich Hauswirtschaft in einer christlichen Einrichtung. So hing der Glaube für mich untrennbar mit Aufgaben, Arbeit und Regeln zusammen. Auch bei Gott musste ich stark sein. Ich begann auch in der Bibel zu lesen und betete, doch die Prioritäten waren klar: zuerst kam die Arbeit …
Ein vorgezeichnetes Leben
So verlief mein Leben wie vorgezeichnet: Ich arbeitete als Kinderkrankenschwester und in der Landwirtschaft. Ich heiratete Klaus, meinen Mann, und bekam vier Kinder. Daneben sorgte ich für meine Eltern und Grosseltern. Was sich hier so kurz zusammenfassen lässt, füllte meinen Tag bis an den Rand. Ständig war ich gefordert. Meine eigenen Wünsche oder Bedürfnisse waren nicht gefragt. Natürlich litt ich darunter, aber ich genoss es auch. Immerhin war ich stark, und nicht viele hätten das Pensum bewältigt, das für mich selbstverständlich war. Wenn man in meiner Umgebung meinte: «Wir könnten jemanden gebrauchen, der…», war mir klar, dass ich gemeint war. Das galt auch für die Kirche und meinen Glauben. Ich besuchte Gottesdienste, übernahm Verantwortung, las in der Bibel – alles war von Leistung und Pflicht geprägt, so wie mein sonstiges Leben. Mein Ziel war es, perfekt zu sein.
Irgendwann zeigte mir mein Körper, dass es genug war. Immer häufiger zwangen mich Rücken- und Kopfschmerzen zur Ruhe und legten mich lahm. Ich gab einige Aufgaben ab und wollte etwas kürzertreten, doch sobald ich wieder stehen konnte, übernahm ich neue. Ich hatte einfach schon viel geschafft. Deshalb kamen Menschen zu mir und meinten: «Das ist doch genau das richtige für dich. Du bekommst das sicher hin.» Und mein Stolz und meine Stärke halfen mir, es tatsächlich zu schaffen, obwohl ich innerlich so müde war.
Ändern ja, aber wie?
Während dieser Zeit begegnete ich einige Male völlig überrascht einem anderen Gott, als ich ihn bisher kannte, einem Gott, für den ich nichts leisten musste. Ich erinnere mich gut an einen Tag, an dem ich fix und fertig war. Die Arbeit hatte mich geschafft. Meine Kinder konnte ich nur noch anschreien und auch über meine Eltern ärgerte ich mich ununterbrochen. Ich fühlte mich gelebt, benutzt, ausgebrannt. Mitten in diesem inneren Chaos ging ich mit meinen Kindern in den Wald und während sie plötzlich friedlich und fantasievoll miteinander spielten, begann ich zu beten: «Gott, mein Leben muss anders werden. So geht das nicht weiter.» Ich redete mir den Frust von der Seele und fragte mich schliesslich: Was haben Gott und Jesus eigentlich mit mir persönlich zu tun? Von jetzt an wollte ich mein Verhalten ändern.
Irgendwann bekam ich die Möglichkeit zu einer Mutter-Kind-Kur. Ich fuhr mit meiner Tochter weg, aus dem vollen Leben in die Ruhe hinein. Das Resultat war allerdings nicht, dass es mir besser ging, sondern mein völliger körperlicher und seelischer Zusammenbruch. Viele liebevolle Gespräche und auch Gebete stellten mich vor die Frage: Was will ich eigentlich? Und was will Gott von mir? Ich merkte, dass mich eine neue Kraftanstrengung nicht weiterbringen würde. Es ging nicht mehr länger darum, mich zu ändern. Ich war bereit, mein Leben von Gott verändern zu lassen.
Eine neue Richtung
Erste kleine Schritte gaben meinem Leben eine neue Richtung. Ich konnte auch mal nein sagen, plante persönliche Zeiten für mich und für Gott ein, legte meine Pläne bewusst in Gottes Hand. Etwas später stand ich vor einer Operation. Ich wusste mich von Gott getragen, liebe Menschen beteten für mich und ich ging voller Zuversicht zur OP – drei Tage später wachte ich auf der Intensivstation auf. Als mein Mann und meine beste Freundin mich besuchten, war ich noch sehr schwach, doch ich hatte den tiefen Wunsch, mit den beiden in den Raum der Stille zu gehen. Ich fühlte mich völlig leer, Fragen über Fragen schossen mir durch den Kopf. So stand ich vor Jesus und bat ihn unter Tränen, meine Leere zu füllen. Ich gab mein ganzes Leben in seine Hände, mir wurde klar, wenn ich weiterleben durfte, dann wollte ich das nicht so wie bisher tun.
Während meiner Genesungszeit war ich getragen von liebevollen Worten und Gebet. Unser gesamtes Familienleben änderte sich in der Folgezeit, Jesus wurde unser Mittelpunkt. In den Zeiten, in denen ich gekämpft hatte und sehr stark war, hatte ich Menschen verletzt und wurde verletzt. Jetzt konnte ich Vergebung erfahren und durfte selbst vergeben. Das fiel mir nicht leicht, aber ich lernte loszulassen, unsere Kinder, meine Eltern, meine Arbeit, manche Träume und viele Aufgaben. Auf der anderen Seite entdeckte ich Gaben bei mir, die ich nicht kannte. Eine besondere Hilfe in dieser Phase war mir das Besuchen von Frauenfrühstückstreffen. Dort fand ich Trost, Hilfe und Heilung.
Immer noch stark
Kürzlich stiess ich beim Bibellesen auf den Vers: «Ihr habt nie wirklich zu mir gehört, was ihr getan habt, das habt ihr ohne mich getan» (vgl. Matthäus, Kapitel 7, Vers 23) und ich erkannte mein altes Leben darin wieder. Diese Verhaltensmuster wollen immer noch Raum in meinen Leben gewinnen – ich bin ja noch ich –, doch mit Gottes Hilfe lerne ich: Gott liebt mich wie ich bin, mit meinen Stärken und Schwächen, mit meinen Fähigkeiten und meinem Versagen, er kennt meine Träume und unerfüllten Wünsche, ich darf jeden Tag in seiner Liebe leben. Gott öffnet mir die Tür zu einem interessanten und aktiven Leben nach seinem Willen. Heute bete ich gern, Bibellesen ist keine Pflicht mehr, sondern ich erfahre Trost, Hilfe und Wegweisung dabei. Und ich bin immer noch stark. Weil Gott mich stark macht.
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Datum: 27.03.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet