Wie Worte unsere Kinder prägen
Mitte der 90er: Geburtstagsfeier einer Tante. Ich habe noch keine Kinder. Ein kleiner Junge tobt und donnert dabei mit seinem Kopf so an den Tisch, dass die Schwarzwälder Kirschtorte schwankt. Die Mutter greift sich ihren Sohn und sagt: «Was hast du gerade im Kopf? Den Teufel!» Ich zucke zusammen und ringe nach Worten. Auch wenn ich sonst vieles stehen lassen kann, werde ich wachgerüttelt: Unbedachte Worte sind machtvolle Stempel für die Selbstwahrnehmung eines Kindes.
Wir Eltern reden viel – locker, fröhlich, angespannt oder zornig. Ich denke nicht immer vorher über das nach, was ich sage. Gerade im Umgang mit meinen Kindern habe ich erlebt, wie schnell Worte aus mir herauspurzeln. Deshalb ist es mir wichtig, ein Bewusstsein für die Kraft meiner Worte zu entwickeln. Denn jedes Wort bewirkt etwas!
Ermutigung lernen
Anna (alle Namen geändert) berichtet, wie sie als Kind fast unsichtbar war. Immer wieder stellt ihre Mutter sie anderen mit diesen Worten vor: «Anna ist so, dass man sie immer vergisst und übersieht!» Wahrscheinlich ist es liebevoll gemeint, denn Annas Brüder sind laut und präsent. Erst mit 40 Jahren gönnt sich Anna schliesslich eine Beratung, um zu verstehen, was sie so unscheinbar macht und welchen Einfluss die Worte ihrer Mutter hatten.
Natürlich erlangt nicht jede Aussage so eine hohe Bedeutung im Leben eines Kindes – zum Glück. Wir können nie wissen, welche Bemerkung, welches Lob oder welche Rüge im Kind Resonanz auslöst. Deswegen sollten wir sorgsam mit unseren Worten umgehen. Worte sind kraftvoll. Sie können schwächen oder stärken, motivieren oder demotivieren, trennen oder verbinden. Das Tolle ist: Worte können eingeübt werden. Jede Familie kann Ermutigung und Lob lernen. Wir können dabei bewusst auf unsere Sprache und unsere Wortwahl achten.
Wir können zum Beispiel zuhören, wie andere Eltern ihre Kinder loben oder wie Ehepartner über den anderen sprechen. Und reflektieren: Welche bewertenden Formulierungen nutze ich häufig? «Da warst du lieb!» «Sei schön leise!» «Stell dich nicht so an wegen der Beule am Kopf!» «Du kannst wirklich nichts!» Wenn wir uns das bewusst gemacht haben, können wir üben, die Sätze umzuformen: «Deine Unterstützung hat mir gutgetan.» «Danke, dass du gerade still zuhörst.» «Ich spüre, du hast Schmerzen.» «Ich möchte gern herausfinden, was du besonders gut kannst.»
Liebe ohne Wertung
Manchmal hilft es, mir auszumalen, was meine Bewertung konkret heisst. «Da warst du lieb!»: Wäre mir das Kind denn nicht lieb, wenn es sich anders verhielte? «Lieb sein» wird in Verbindung gebracht mit «still sein und mich nicht fordern» und vermittelt automatisch, dass ein Kind nicht lieb ist, wenn es mehr körperliche Aktivität oder Fragen mitbringt. In diesem Moment stellen wir uns unbewusst über das Kind, um ihm zu sagen, wie es zu sein hat. Jedes Kind hat ein grosses Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Kinder wollen mit den Eltern zusammenarbeiten und ihnen gefallen. Sie strengen sich an, die Bewertungskriterien zu erfüllen – auch, wenn sie sich dafür verbiegen müssen. «Lieb sein» kann aber auch bedeuten: «Ich habe dich immer lieb, egal wie dein Verhalten gerade ist.» Diese Zusage, diese eine Liebesbekundung sollte nicht mit einer Rüge oder einem Lob verbunden sein.
Das Selbstvertrauen von Kindern ist so sehr von Lob abhängig, dass sie es permanent einfordern. Manche Kinder verhalten sich ständig so, dass sie anderen gefallen. Oder sie tun Dinge nur, um ein Lob zu bekommen.
«Sei schön leise!»: Hier legen wir unsere Bewertung von «schön» auf das Kind. Wer sagt denn, dass leise sein «schön» ist? «Stell dich nicht so an wegen der Beule am Kopf!»: Ich habe auch Momente, in denen mir etwas Schmerzen verursacht. Wie wohltuend, wenn jemand diese Schmerzen nicht wegredet. «Du kannst wirklich nichts!»: Diese Bewertung wischt den Respekt vor dem Einzelnen weg. Unserem Kind dürfen wir das nicht zumuten.
«Das hast du toll gemacht!» Hier dürfen wir fragen, ob unser Kind selbst zufrieden ist. Denn um dieses innere eigene Bewerten geht es im Lob. Unser Kind wird ein gesundes Ich-Gefühl entwickeln, wenn es nicht auf positive Bewertungen von aussen angewiesen ist. Lob ist eine Einladung zum Austausch über die Wahrnehmung des Gelungenen und des Noch-nicht-Gelungenen.
Orientierung geben
Auch wir selbst sind mit Worten geprägt worden – vielleicht mit guten, vielleicht mit weniger guten. Gerade in turbulenten Alltags-Situationen kann es zu spontanen Äusserungen kommen, die den Tiefen unserer eigenen Erfahrung entspringen. Deshalb ist es wichtig, den eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern. Wie wäre es, eine Lobliste anzulegen? Es kann auch eine Liste werden, die eine Familie für sich erstellt: Was wertet mich auf? Was wärmt mich von innen? Was sagt Gott über mich?
Im Familienalltag bewerten wir uns ständig gegenseitig. Wir bewerten, indem wir ignorieren, Wohlwollen zeigen, mit den Augen rollen oder kommentieren. All das hilft unserem Kind, sich zu orientieren: «So ist mein Leben. Das finden meine Eltern wichtig.» In manchen Familien, die ich berate, erlebe ich zu wenig Worte. Dabei sind Worte wichtiger Bestandteil zum Beispiel einer Mahlzeit: Wir hören zu, achten auf kleine Gesten der Höflichkeit und laden klar und liebevoll zum Sitzenbleiben ein. Worte leiten an und vermitteln ein Familiengefühl. Wir geben Kindern mit bewusst gewählten Worten Halt. Positive Äusserungen wie «Ich freue mich mit dir», «Ich bin beeindruckt» oder «Ich freue mich, wie stolz du bist» bringen dem Kind Wertschätzung entgegen und stärken das Ich-Gefühl. Solche Worte rutschen tief ins Herz eines Kindes.
Positive Haltung
In einer Familie liegt schnell der Fokus auf Fehlern und dem, was «falsch» läuft. Im Miteinander geht es aber nicht um Erfolg oder Misserfolg, sondern um eine wertfreie Begegnung miteinander und mit Gott. Wir dürfen den Sprachgebrauch unserer Erziehung hinterfragen und ersetzen und den Fokus auf die Fähigkeiten des Kindes oder die Möglichkeiten zur Unterstützung legen. Manchmal hilft es, den Teenager zu fragen: «Ich finde Erfolg nicht so wichtig. Wie geht es dir damit, wenn ich das nicht lobe?» Unseren Sohn hat es beispielsweise verletzt, dass wir auf sein gelungenes Abitur nicht reagiert haben.
Wir können mit positiver Sprache eine positive Haltung fördern. Wir können zum Beispiel auf das Wort «falsch» verzichten und lieber Alternativen oder Lösungswege anbieten. Anstelle von «Ach, Luisa, du hast ja schon wieder die Jacke falsch angezogen» können wir sagen: «Schau mal, der Ärmel hängt da unten. Hier kannst du reinschlüpfen.» Der Fokus liegt nicht auf dem Fehler, sondern wir bieten positive Unterstützung an. So entsteht eine ermutigende Atmosphäre.
Oft haben wir eine Bewertung im Kopf und im Herzen. Wir finden das Verhalten des Kindes zu laut oder sein Zögern zu ängstlich. Simone ärgert sich wiederkehrend über den fordernden Ton ihrer Tochter. Wenn Lenja in den Raum kommt, hat Simone oft den Impuls, zu fliehen oder zu meckern. Zunächst tauscht sie sich darüber mit ihrem Partner aus. So ein Austausch kann einen Perspektivwechsel bewirken, der den Zugang zum Kind verändert. Simone bekommt dadurch Orientierung über ihre eigenen Gefühle, sodass sie in der nächsten kritischen Situation statt eines Motzanfalls sagen kann: «Ich möchte gern mit dir reden. Aber wenn du mit mir in diesem Ton sprichst, macht mich das sauer.» Simone wiederholt diesen Satz und findet heraus, dass es ihrer Tochter guttut, erst mal in den Arm genommen zu werden. Nun kann eine Wertschätzung ins Herz sacken.
Simone beschreibt in der Beratung: «Auch wenn das Kind meine Bemerkungen nicht hört, prägen sie doch die Wirklichkeit. Deswegen möchte ich mir zur Gewohnheit machen, gut über mein Kind zu sprechen. Gute Worte über andere verändern auch unsere Sicht auf sie und unsere Haltung ihnen gegenüber. Wir können aussprechen, was durch Gott in den Kindern Wirklichkeit werden kann und soll.»
Kraft und Segen
Johann ist erwachsen. Er berichtet von einer Mitarbeiterin in seiner Kirche, die immer wieder zu ihm gesagt hat: «Du wirst ein guter Leiter. Du hast Einfluss auf Menschen.» Zu diesem Zeitpunkt hat Johann gestottert, er war zurückgezogen und schrullig. Tatsächlich aber sah die Mitarbeiterin, wie er sich um die neuen Kinder bemühte oder Jüngeren half. Johann hat sich in diese Idee, dass Gott ihn gebrauchen kann, hineingelebt und ist heute tatsächlich ein hingebungsvoller Gruppenleiter.
Worte haben Kraft. Wo Wunden entstanden sind, dürfen wir um Vergebung bitten. Wenn uns unser Kind herausfordert, können wir es segnen. Denn im Segnen liegt der unfassbar starke Blick, den Gott auf unser Kind hat. Ich lade euch ein zum liebevollen Loben und ehrlichen Ermutigen!
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Datum: 27.01.2025
Autor:
Stefanie Diekmann
Quelle:
Magazin Family 01/2025, SCM Bundes-Verlag