Gesprächsregeln

Damit Junge uns Ältere fragen

Damit die Jungen die Älteren fragen
Markus Müller, der langjährige Heimpfarrer im Zentrum Rämismühle bei Winterthur, ist der Meinung, dass bestimmte Regeln das Gespräch zwischen den Generationen wesentlich erleichtern können. Er teilt die Wichtigsten hier mit uns.

Nach zahllosen Gesprächen mit alten Menschen weiss ich, dass bestimmte Regeln das Gespräch zwischen den Generationen wesentlich erleichtern könnten.

Die ersten neun richten sich an ältere Menschen:

1.) Nicht Ihre Urteile, sondern Ihre Fragen sind gefragt. Alte Menschen haben auch Fragen. Nach viel Lebenserfahrung ist aber die Versuchung gross, eher zu urteilen als zu fragen. Haben Sie als älterwerdender Mensch den Mut, Ihre Fragen jungen Menschen zu stellen!

2.) Erinnern Sie sich an Ihre eigenen Fragen in diesem Alter. Wissen Sie noch, was Sie mit 16 oder 20 oder 22 beschäftigt hat? Sie können sicher sein: Auch die jetzt Jungen haben Fragen. Wir alle bedauern, dass sie diese nicht immer an uns richten.

3.) Gehen Sie davon aus, dass das Verhalten junger Menschen seine Gründe hat. Aus der Begleitung von Menschen wissen wir: Alles Verhalten hat Ursachen. Das gilt auch für die Sehnsucht nach dem Handy, den Wunsch, weniger zu arbeiten oder den Protest gegen frühere Generationen.

4.) Fragen wollen gehört werden. Gerade alte Menschen haben unendlich viel Erfahrung. Dies kann zum Stolperstein werden, wenn sie die Anliegen des Gegenübers aus dem Blick verlieren. Möglicherweise schenken uns jüngere Menschen wieder viel mehr Aufmerksamkeit, wenn wir ihre Fragen genau heraushören.

5.) Erinnern Sie sich an die fünf letzten Fragen, die Ihnen gestellt worden sind. Wir wissen schlicht aufgrund unserer Lebenserfahrung viel von uns selbst. Wissen wir auch, was andere denken und was sie beschäftigt? Es könnte hilfreich sein, wenn wir uns kurz an die letzten fünf Fragen erinnern, die uns junge Menschen gestellt haben. Vielleicht können wir uns mit Gleichaltrigen da­rüber unterhalten, wie eine kluge und weise Antwort aussehen würde.

6.) Wir sollten nie ungefragt länger als drei Minuten antworten. Welche Erfahrungen haben junge Menschen im Gespräch mit uns uns gemacht? Einige sagen: «Wenn man eine 20-Sekunden-Frage stellt und eine 20-Minuten-Antwort gegeben wird, macht dies nicht Mut, weitere Fragen zu stellen.»

7.) Wir alle sehnen uns nach Wertschätzung – Junge auch. Wörtlich meint Wertschätzung, den Schatz im andern Menschen zu sehen, zu erkennen und zu benennen. Wie schön, wenn wir als Ältere von Jüngeren «wertgeschätzt» werden, also unser Schatz an Reife, Weisheit, Lebenserfahrung … erkannt und in Worte gefasst wird. Glauben Sie es: Danach sehnen sich junge Menschen auch – vielleicht mehr als wir.

8.) Glauben vermitteln ist gut – Hoffnung vermitteln mindestens so sehr. Die meisten von uns haben im Laufe der vergangenen 40 oder 50 Jahre gut gelernt, den Glauben zu bekennen und zu formulieren. Die Jungen sehnen sich aber mindestens so sehr nach Hoffnung. Nichts braucht es in unserer verwirrenden und irritierenden Welt so sehr wie Hoffnung. Können junge Menschen bei uns Hoffnung tanken – notfalls auch ohne Worte?

9.) Immer etwas mehr Zukunft als Vergangenheit in den Blick nehmen. Alt ist, wer an der Vergangenheit mehr Freude hat als an der Zukunft, heisst es. Wahrscheinlich interessieren sich junge Menschen aber nicht nur für unsere Vergangenheit, sondern auch für unsere Vorstellungen über die Zukunft und das Lohnenswerte darin. Wie sind Sie eigentlich im Laufe Ihres Lebens damit umgegangen, wenn die Zukunft für Sie he­rausfordernd war? Was hat Ihnen dabei geholfen? Was hat sich bei Ihnen bewährt? An der «Biographie» Ihres Umgangs mit Zukunft könnten Junge sehr interessiert sein.

Und noch ein Rat an die Jungen:

10.) Die Alten könnten interessanter sein als Google. Wir merken es: Bei Fragen wendet sich ein junger Mensch gewohnheitsmässig schnell an Google. Die Antworten sind nicht selten kurz und tauglich. Die Einladung: Habt den Mut und seid hartnäckig, alte Menschen zu fragen und nochmals zu fragen und nochmals zu fragen. Unterbrecht sie, wenn sie auf andere Fragen antworten als ihr gestellt habt. Seid mutig – es könnte sein, dass ihr bei alten Menschen mehr Lebenswichtiges als bei Google erfahrt. Probiert’s!

Dr. Markus Müller arbeitete vor seiner Pensionierung als Heimpfarrer im Zentrum Rämismühle bei Winterthur (Schweiz). Er ist Initiator der «Initiative Pro Aging».

Zum Thema:
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Datum: 02.09.2024
Autor: Markus Müller
Quelle: Magazin LebensLauf 05/2024, SCM Bundes-Verlag

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