Aktuelle Stimme aus Moria

Würdevolles Zusammenleben ist möglich

Fast drei Wochen sind vergangen, und die Bilder des abgebrannten Lagers sind noch immer in unseren Köpfen. Rund 12'600 Flüchtlinge waren davon auf der griechischen Insel Lesbos betroffen. Menschenmassen verweilen aktuell auf Plätzen und Strassen im Freien.
Das Flüchtlingscamp Moria nach dem Brand
Thea Classen (Bild: zvg)

Thea Classen war selber bis vor kurzem vor Ort, um tatkräftig anzupacken. Sie berichtet über Kämpfe auf dem Wasser oder um ein Stück Brot und Perspektiven.Wenn man sich die Lage vergegenwärtigt wird klar: Hilfe braucht es, keine Frage. Oft scheitert es jedoch an der Frage, wie diese Hilfe aussehen könnte und dann passiert vielleicht gar nichts. Der Spagat besteht jeweils zwischen akuter Nothilfe und diplomatischen Vorstössen, welche die Lage vor Ort verbessern. Sich nur auf eine Massnahme zu beschränken, reicht nicht.

Das Projekt «Pikpa» zeigt eine Alternative auf, wie ein Camp auch menschenwürdig geführt werden kann.

Weg und doch noch da

Die meisten Gestrandeten auf Lesbos kommen aus Afghanistan, wobei man nicht vergessen darf, dass es sich dabei um eine Gruppe von Personen mit unterschiedlichsten Prägungen und Lebensläufen handelt. Daneben gibt es viele Menschen aus Syrien, Iran, Irak, Kurdistan und auch aus verschiedenen afrikanischen Ländern wie zum Beispiel Somalia.

Das Ziel der Gemeinschaft «Pikpa» ist es, eine Umgebung zu schaffen, in der Menschen Liebe, Sicherheit, Respekt und Würde erleben. Sie ist speziell auf verletzliche Personen ausgerichtet.

Livenet war im Gespräch mit Thea Classen, die für ein Jahr Teil des Operationsteam im alternativen Camp war und sich um Belange wie Nahrung, Hygieneartikel, Lagerung und Ausstattung der Hütten kümmerte; und ebenfalls um die Koordination der Freiwilligen und der Aktivitäten im Camp. Sie gehört den Jesus Freaks Leipzig an.

Wie hat sich die Lage seit dem Brand in Moria entwickelt?
Thea Classen:
In den ersten Tagen haben die Menschen kaum Versorgung bekommen. Die meisten Menschen mussten drei Tage lang auf Nahrung und Hygieneartikel warten. Die Polizei sowie rechtsextreme Lokale hatten die Strassen blockiert, sodass Helfer und Helferinnen nicht zu den Menschen durchkamen. Mittlerweile hat die griechische Regierung ein neues Camp errichtet – hier ist nach wie vor nicht genug Platz. Es gibt nicht genügend Toiletten, Duschen und Nahrungsversorgung. Viele Geflüchtete haben sich zunächst geweigert, das Camp zu betreten, da sie ein neues Moria fürchten – das heisst ein Camp, das nicht genug versorgt wird und in dem sie wie in einem Gefängnis eingesperrt werden. Wer sich nicht registriert und einzieht, kann jedoch seinen Asylantrag nicht fortführen. Deshalb sind nun die meisten dort registriert.

Wie ist die Stimmung und wie gehen die diversen Menschengruppen miteinander um?
Die Stimmung ist extrem angespannt. Man muss sich vorstellen: 13'000 Menschen, die zuvor gemeinsam eingesperrt waren, leben nun unter prekärsten Bedingungen auf der Strasse. Wer Hunger hat, wird aggressiv. So konnten NGOs nur schwer Wasser und Nahrung verteilen, da häufig Kämpfe um ein bisschen Brot ausgebrochen sind. Unter vielen der Menschen herrscht die pure Verzweiflung, denn sie können sich und ihre Kinder nicht versorgen. Andere demonstrieren friedlich aber bestimmt für ihr Recht auf eine Unterkunft und ein Leben in Frieden und mit einer Perspektive. Generell herrscht aber eine Wut, nicht nur auf die griechische Regierung, sondern auf die EU, die all das finanziert und unterstützt. Die Menschen hatten vorher ein anderes Bild von Europa. Nun sind sie verzweifelt, enttäuscht und es fehlt nach monate- bis jahrelangem Warten an jeglicher Perspektive.

Wie sieht Ihr spezifischer Beitrag aus?
Unsere Arbeit findet ausserhalb des Geschehens statt. Wir betreiben ein unabhängiges Camp für die verletzlichsten Geflüchteten namens PIKPA. Wir sind ein Camp, das unabhängig von der EU und von der griechischen Regierung mit Hilfe der Zivilgesellschaft zeigt: So kann eine Alternative aussehen. Bei uns leben ca. 110 Menschen, die von der UNHCR als besonders vulnerabel eingestuft werden. Hier leben beispielsweise grosse Familien, Menschen mit Behinderung, chronisch kranke Menschen, Menschen mit starkem psychischem Belastungserleben (zum Beispiel durch Folter) sowie unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Wir zeigen einen Gegenentwurf auf – und sehen den einzelnen Menschen, anstatt Menschen als eine Masse zu behandeln.

Was wünschen Sie sich von der Welt-Gemeinschaft?
Wir wünschen uns, dass die Europäer laut werden gegen die Politik, die hier betrieben wird und die auf Einzelschicksalen ausgetragen wird. Wir wünschen uns, dass wir alle gemeinsam Druck auf Entscheidungsträger ausüben und deutlich machen: Das ist nicht unser Europa! Wir möchten, dass Menschen in Europa willkommen sind und die Chance auf einen fairen Asylantrag haben. Dass man darüber diskutieren muss, ist ein Skandal an sich – denn das ist ein Menschenrecht!

Wie kann man praktisch Hilfe leisten? Was kann die einzelne Privatperson tun?
Pakete senden, da viel Alltagsmaterial gebraucht wird: Schuhe, Zahnbürsten, Hosen etc. oder Finanzen. Die wichtigsten Homepages, um sich zu informieren und Tipps zu bekommen, sind Leave No One Behind, Flüchtlingshilfe und Europe Must Act.

Was sind Ihre Zukunftsperspektiven?
Pikpa steht wie viele andere NGOs gerade unter Beschuss der griechischen Regierung. Uns erwartet nach einer intensiven Inspektion im Camp ein Bericht, der uns möglicherweise mitteilt, dass wir das Camp schliessen müssen. Die Arbeit vieler NGOs wird derzeit stark und immer stärker blockiert – das führt dazu, dass Geflüchtete auf Lesbos (und anderswo) immer weniger Lobby haben, immer weniger Möglichkeiten, die prekären Bedingungen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Das Camp Moria ist niedergebrannt, aber es ist ein neues Moria entstanden, das keine besseren Bedingungen als zuvor aufweist. Es besteht nicht die Absicht, die Bedingungen zu verbessern. Wenn wir es schaffen, Druck auszuüben, erhoffen wir uns, dass mehr EU-Staaten sich gegen die griechische Migrationspolitik aussprechen und Alternativen anbieten – viele deutsche Städte und Gemeinden sind bereit dafür und sagen: Wir haben Platz! (Mehr Infos dazu finden Sie hier).

Zur Website:
Lesvos Solidarity

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Datum: 28.09.2020
Autor: Roland Streit
Quelle: Livenet

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