Zwischenruf

Jeder Mensch ist Ausländer – fast überall!

Demonstration gegen Rechtsextremismus (Archivbild)
Hunderttausende Menschen protestierten in den vergangenen Tagen in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus und die AfD. Die politische Situation im Land schockiert viele – auch Rebekka Schmidt, stv. Chefredakteurin von Livenet.

«Jeder Mensch ist Ausländer – fast überall!» Dieser Spruch zierte Anfang der 1990er-Jahre viele Autos. Er war eine Reaktion auf «Ausländer raus»-Graffiti, -Rufe und -Aufkleber der 1980er… Wenn ich die AfD-Parolen aus den vergangenen Tagen und Wochen in den Nachrichten höre, musste ich wieder an diesen Spruch denken: Wie viel Hass hört man da, wie viel Stolz, wie viel Selbstverständlichkeit, dass man ein Recht auf gewisse Dinge hat, andere aber nicht…

Mir geht es hier nicht um Politik, mögliches Versagen der Regierung, ein fehlerhaftes oder gescheitertes Sozialsystem. Dass die Situation in Deutschland brenzlig ist, ist mir klar. Aber mir geht es um den Fakt, dass niemand bestimmen kann, wo er geboren wird. In welche soziale Schicht, welches Religionssystem, privilegiert oder in extremer Armut. Ich frage mich: Wer sind die Leute, die da auf den AfD-Veranstaltungen schreien? Was ist ihre Geschichte, dass sie sich so «deutsch» fühlen? Haben sie schon einmal eine andere Realität kennengelernt, sich in die Schuhe eines anderen versetzt, der eben nicht in Deutschland geboren wurde?

Eine völlig andere Realität

Rebekka Schmidt ist stellvertretende Chefredakteurin bei Livenet

Ich sehe mich selbst nicht als typische Deutsche, auch wenn ich hier geboren bin. Mein Vater stammt aus Rostoka, Kreis Konin (im heutigen Polen), meine Mutter aus der Schweiz. Aufgewachsen bin ich zwar in Norddeutschland, habe dann aber fast 20 Jahre meines Lebens in Lateinamerika und den USA gelebt. Länder, die mich mit offenen Armen aufgenommen haben, wo ich mich nie ungewollt oder minderwertig gefühlt habe, in denen Sprachmangel nicht überlegen belächelt oder hochmütig ignoriert wurde, sondern mit der erstaunten Nachfrage kommentiert, woher ich denn bloss «so gut» die Sprache könne. Länder, in denen ich als Ausländerin bewundert wurde für den Mut, in einem fremden Land neu anzufangen, offen für neue Traditionen zu sein und immer, wirklich immer willkommen geheissen wurde. Kein einziges Mal hörte ich «Ausländer raus», «Remigration» oder wie auch immer man es bezeichnen will.

Damit die Mehrheit nicht mehr schweigt

Heute lebe ich wieder in meiner Heimat – und schäme mich. Weil ich weiss, wie es ist, Ausländer zu sein. Weil eben jeder Mensch fast überall Ausländer ist. Weil ich nicht glaube, dass das wirklich die DNA von Deutschland ist – vor allem nach 70 Jahren «Nie wieder!». Weil mich die Parolen der AfD-Anhänger zu sehr an Filme aus dem Dritten Reich erinnern. Weil niemand das Recht hat, so auf einen anderen Menschen herabzuschauen. Und vor allem, weil ich gerade im Ausland gelernt habe, mein Land ganz neu zu lieben und zu schätzen – und jetzt erleben muss, wie Ausländer Angst haben müssen, auf die Strasse zu gehen.

Das ist nicht das Deutschland, das ich kenne und liebe – und genau deshalb muss die schweigende Masse, die schweigende Mehrheit laut werden, so wie die hunderttausende Gegendemonstranten in den vergangenen Tagen; wir müssen uns zusammentun und gemeinsam zeigen, was Deutschland ausmacht, auf welche Werte das Land gebaut ist – und dass wir verantwortungsvoll mit den Privilegien umgehen, die uns anvertraut wurden, ohne dass wir dafür etwas tun mussten.

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Datum: 22.01.2024
Autor: Rebekka Schmidt
Quelle: Livenet

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