Bericht eines Pastors vor Ort

«Ein neues Venezuela und eine Erweckung wird kommen»

Gefälschte Wahlergebnisse werden in Venezuela nicht akzeptiert
In Venezuela halten die Proteste gegen mutmassliche Wahlfälschung an. Präsident Maduro lässt die Proteste niederschlagen. Ein Pastor berichtet, wie es den Christen im Lande geht – und warum bei seiner Sicht auch Prophetie eine Rolle spielt.

Zwei Wochen nach der Präsidentschaftswahl in Venezuela ist das Land weiter in Unruhe. Diktator Nicolás Maduro lässt die Proteste gegen die offiziell verkündeten Wahlergebnisse niederschlagen. Viele Demonstranten wurden festgenommen, die Zahlen schwanken zwischen 1'200 und 2'000 Personen. Sie werfen dem sozialistischen Regime vor, die Wahl zugunsten Maduros manipuliert zu haben.

Während der Oppositionskandidat Edmundo González Urrutia auf offiziell 44 Prozent der Stimmen kam, wurden Maduro 51 Prozent zugesprochen. In Umfragen hatte González klar vorne gelegen. Die Opposition geht von einem Wahlsieg von González mit einem Ergebnis von 70 Prozent aus, Maduro habe nur 30 Prozent der Stimmen erhalten. Sie bezog sich dabei laut «Tagesschau» auf Nachwahlbefragungen und vier unabhängige Hochrechnungen sowie auf die tatsächlichen Auszählungsergebnisse.

Das Land hat in den vergangenen Jahrzehnten einen beispiellosen Niedergang erlebt, der sich spätestens seit der Präsidentschaft von Hugo Chavez ab 1999 beschleunigte. Einst gehörte Venezuela zu den reichsten Ländern Südamerikas, nun zu den ärmsten der Welt – trotz grosser Vorkommen an Bodenschätzen.

Pastor Carlos, der nur in diesem Interview sso heissen soll, macht das auch an der geistlichen Entwicklung des Landes fest. Er hat bis zu seinem Ruhestand an der staatlichen Universität in der Hauptstadt Caracas als Professor gelehrt. Seit 2019 widmet er sich ehrenamtlich vor allem der Seelsorge, ist Pastor einer kleinen Online-Gemeinde, deren Mitglieder in Venezuela und darüber hinaus zerstreut leben und kleine Gottesdienste in ihren Häusern feiern. Ausserdem engagiert er sich als Evangelist und Pastor in der Studentenarbeit.

PRO: Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Situation in Venezuela?

Pastor Carlos: Wir wissen, dass Gott die Herrschaft über die Reiche der Menschen hat, und er gibt die Macht, wem immer er will. Der Allmächtige ist derjenige, der Könige absetzt und Könige einsetzt. Der Herr demütigt auch alle Stolzen. Leider ist unser Land, Venezuela, von Arroganz und Götzendienst geprägt. Wir haben geglaubt, dass wir aufgrund des Reichtums unseres Landes niemals in Ungnade fallen würden. Ausserdem verehren die Menschen in Venezuela die Helden der Vergangenheit und die Führer der Gegenwart wie Götter. So ist es uns wie in der biblischen Geschichte ergangen, dass Gott Herrscher eingesetzt hat, die Instrumente der Bestrafung für ein rebellisches Volk waren. Im Falle Venezuelas wurde dies seit mehr als 60 Jahren durch eine Prophezeiung angekündigt, aber wir wollten es nicht wahrhaben. Wir befinden uns jetzt in einer Zeit, in der dieses alte, verseuchte Venezuela untergehen und ein neues Venezuela hervorbringen muss, in dem die Souveränität Gottes anerkannt wird. Es ist daher notwendig, dass wir durch «Geburtswehen» gehen, während wir leben. Das ist die aktuelle politische Situation in Venezuela.

Wie hat sich das Land in den letzten Jahrzehnten entwickelt?

Dieses Land hat während des gesamten 20. Jahrhunderts ein bedeutendes Wirtschaftswachstum und eine Entwicklung in verschiedenen Bereichen erlebt. Leider gab es keine angemessene geistliche Entwicklung. Viele Menschen, die im Überfluss lebten, suchten nicht nach Gott. Das Evangelium war präsent, aber seine Ausbreitung war im Verhältnis zur Wachstumsgeschwindigkeit des Landes langsam. Das Land hat sich nicht entwickelt, sondern ist zurückgegangen, es hat in praktisch allen Bereichen einen Rückgang gegeben. Das Böse hat sich stattdessen vervielfacht: die Anbetung falscher Götter, die Unterdrückung des Volkes, Kriminalität, organisiertes Verbrechen, interne Auseinandersetzungen, die Anwendung repressiver Gewalt und der Stopp der Zählung der Wählerstimmen.

Welche Rolle spielen die Christen in Venezuela?

Alles, was in Venezuela geschehen ist, wurde von Gott durch christliche Brüder und Schwestern durch die Gabe der Prophetie angekündigt. Leider wollten die Menschen damals nicht auf sie hören und bezeichneten sie als «Propheten des Unheils». Selbst die Kirche war der Meinung, dass so etwas in Venezuela nie passieren würde. Nach all dem, was wir im 21. Jahrhundert erlitten haben, ist die Kirche in Venezuela jedoch stellenweise aufgewacht. Es gibt eine wichtige Gebetsbewegung für das Land. Dabei geht es nicht um die sichtbare Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen oder dergleichen. Es ist ein Volk, das Gott in der Intimität sucht, das seine Türen schliesst und zu Gott schreit, während es durch diese Zeit des Gerichts geht. Wir glauben, dass Gott Gutes und nicht Böses für Venezuela geplant hat und dass er uns ein Ende voller Hoffnung schenken wird. Wir teilen diese Überzeugung und diese Art zu handeln, indem wir die Nation auf eine Art und Weise erfüllen, die vielleicht nicht wahrgenommen wird, die aber mit der Zeit explodieren und eine Veränderung herbeiführen wird. Ein neues Venezuela und eine Erweckung wird kommen. 

Gibt es neben den Katholiken auch protestantische und evangelikale Christen?

Venezuela hat eine tief verwurzelte katholische Tradition. Viele Venezolaner geben an, katholisch zu sein, aber nur nominell, sie praktizieren nicht wirklich. Es gibt jedoch auch protestantische und evangelikale Kirchen im Land. Ebenso gibt es Menschen, die sich nur nominell als evangelische oder protestantische Christen bezeichnen. Darüber hinaus gibt es verschiedene proto-christliche Sekten, die im Land vertreten sind. Nach meiner Wahrnehmung wächst die Zahl evangelikaler Christen im Land. Ich kann das aber nicht mit statistischen Daten belegen.

Welche Rolle spielen evangelikale Christen in der Politik? Stehen sie überwiegend auf einer Seite? 

Im evangelikalen Christentum haben wir den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat. Jesus lehrte uns, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist. Doch hier in Venezuela, wo es so viele politische Unruhen gibt, herrscht unter den Gläubigen Verwirrung. Am Ende des 20. Jahrhunderts dachten viele Gläubige, dass die Bewegung, die an die Macht kommen sollte, für die christliche Kirche von Nutzen sein würde. Das führte dazu, dass viele Menschen innerhalb der Kirche diese Bewegung unterstützten. Es gab eine Art kollektive Illusion, die sich auf irdische Dinge konzentrierte und nicht auf Gott. Das ist heute nicht mehr der Fall. Es gibt eine kleine Gruppe von Pastoren und Kirchen, die sich mit der Regierung verbündet haben und durch die von der Regierung eingerichteten Subventionsprogramme einige Zuwendungen erhalten. Diese kleine Gruppe ist nicht repräsentativ für das evangelikale christliche Volk, aber sie nimmt an offiziellen Veranstaltungen und Propaganda teil und erweckt den Anschein, dass sie die evangelikale christliche Kirche vertritt. Die Regierung behauptet also, dass die evangelikale Kirche auf ihrer Seite steht, aber das ist nicht der Fall. Es gibt eine politische Partei, die lange vor diesem Regime entstanden ist und deren Hauptgründer evangelikale Christen waren. Diese politische Partei ist nicht mehr das, was sie in ihren Anfängen war, und sie wird vom Regime übernommen. Andere unabhängige politische Akteure und Parteien sind ebenfalls aus der christlichen Führung hervorgegangen. Sie behaupten ebenfalls, die evangelikalen Christen zu vertreten, aber das ist keineswegs der Fall. Wir verstehen, dass wir dazu berufen sind, wie die Stimme zu sein, die in der Wüste ruft: «Bereitet dem Herrn den Weg!» Wir sind auch das Licht der Welt und das Salz der Erde; wir sind dazu da, zu bewahren und zu erleuchten. Wir sehen die Fehler jeder politischen Seite; wir weisen auf sie hin und legen sie dem Herrn vor, damit er eingreift. Wir wissen, dass der Ausweg aus dieser Krise durch göttliches Eingreifen erfolgen wird und dass die verschiedenen Akteure auf der Bühne Instrumente sind, die Gott nach seinen Plänen einsetzen wird. 

Gibt Ihnen als Pfarrer die aktuelle Situation eher Hoffnung oder erfüllt sie Sie mit Sorge?

Natürlich ist man besorgt um die vielen Menschen, die leiden, die ihr Leben riskieren, die unterdrückt werden, die ihren Weg auf dieser Erde beenden könnten, ohne ihres ewigen Schicksals sicher zu sein. Auch für die Trauernden dieser Menschen, von denen wir nicht wissen, wie sie in ihrem Schmerz reagieren könnten. Aber auch für diejenigen, die zu den Waffen greifen, weil sie nicht wissen, was sie tun, wenn sie ihre Mitmenschen, die nach dem Bild Gottes geschaffen sind, angreifen. Es gibt Sorge um diejenigen, die politische Führungspositionen innehaben, denn sie sind in einer sehr zerbrechlichen Position, derer sie sich nicht voll bewusst sind, und ihr Leben könnte enden, ohne dass sie die Souveränität Gottes anerkennen. Andererseits gibt es eine grosse Hoffnung auf das, was Gott tun wird, wenn die Ressourcen der Menschen erschöpft sind, wenn alles verloren scheint, da die Kraft Gottes in unserer Schwachheit vollendet wird. So wie seit mehr als 60 Jahren angekündigt wurde, dass diese Katastrophen kommen würden, wurde auch angekündigt, dass ein göttliches Eingreifen kommen wird, ein Aufbruch, der von Gott herkommt, das Entstehen eines neuen Venezuela und eine grosse Erweckung unter den Venezolanern. Das gibt mir als gläubigem Menschen sehr viel Hoffnung.

«Der Ausweg für Venezuela sind nicht Wahlen. Es muss eine göttliche Intervention erfolgen.»

Leiden die Christen unter der Regierung Maduros?

Das ganze venezolanische Volk leidet unter dieser Regierung, unabhängig von seinem Glauben. Die Situation ist für die Gerechten und die Bösen gleich. Wir alle leiden unter einem unterdrückerischen Regime. Gott hat gesagt, dass es an der Zeit ist, das Gericht im Haus Gottes zu beginnen. Von diesem Regime sind auch die Kirche und ihre Amtsträger betroffen. Früher hatten die Christen die Mittel, um an Freizeiten, Schulungen und Missionseinsätzen teilzunehmen, aber jetzt sind die Mittel eines jeden Einzelnen begrenzter. Früher hatten die Gemeinden Geld, um ihre Pastoren und Missionare zu unterstützen, jetzt ist das nicht mehr der Fall. Hier in Venezuela wird die Freiheit der Religionsausübung gewahrt. Es gab vereinzelte Fälle, in denen Pastoren und christliche Brüder schikaniert wurden, aber dies geschah aus politischen und nicht aus religiösen Gründen. Zu den Dingen, die als Prophezeiung für Venezuela in dieser Zeit gesagt wurden, gehört, dass es für eine kurze Zeit zu Verfolgungen kommen wird, aber das ist bis jetzt nicht geschehen. Möge Gott uns stärken und bewahren, wenn wir das durchmachen müssen. 

Glauben Sie, dass es einen Regierungswechsel geben könnte?

Ein Ende Venezuelas in seiner jetzigen Form steht bevor, aber nicht so unmittelbar, wie man es sich wünschen würde. Obwohl es in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Land mit einer demokratischen Tradition war, können wir nicht behaupten, dass es in Venezuela eine Demokratie gab. Die staatlichen Behörden sind nicht unabhängig. Bei den Wahlen hat es wiederholt Betrug gegeben. Der Ausweg für Venezuela sind nicht Wahlen. Es muss eine göttliche Intervention erfolgen. Die Regierungspartei wird nach einem Weg suchen, um an der Macht zu bleiben, entweder mit dem derzeitigen Präsidenten oder mit einem anderen, der seinen Platz einnimmt. Es gibt ein prophetisches Wort, das besagt, dass es drei Könige der Regierungspartei geben wird und der vierte dann vom Herrn kommen wird. Bisher gab es zwei Präsidenten dieser Partei, den vorherigen (Hugo Chavez, d. Red.) und den jetzigen (Nicolás Maduro, d. Red.), wenn dieses Wort wahr ist, wird ein dritter Präsident dieser Partei kommen. Ich habe keine Ahnung, wer diese Personen sein werden, die von nun an die Präsidentschaft übernehmen werden. 

Dieser Artikel erschien bei Pro Medienmagazin

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Datum: 16.08.2024
Autor: Nicolai Franz
Quelle: Pro Medienmagazin

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