«Sie kann ihren Gründer Jesus nicht über Bord werfen»
Er gehörte zum Stadtbild von Solothurn wie die national bekannte Sandra Bohner oder Chris von Rohr der Band Krokus: Peter Bichsel; wenn er beispielsweise seinen Rotwein im Genossenschafts-Restaurant «Kreuz» genoss. Kurz vor seinem 90.Geburtstag ist Peter Bichsel nun verstorben.
«Ich bin ein religiöser Mensch, bin ich gerne und will es auch sein.» Auch passend dazu ist die Aussage im Titel, sie bezieht sich naheliegenderweise auf die Institution Kirche. Ein Nachruf auf einen trotzigen Poeten, einen Hirten von Minderheiten und über die Sprengkraft des Christentums.
Solothurner Lehrer und Literat
Von 1974 bis 1981 war er persönlicher Berater und Redenschreiber des befreundeten Bundesrats Willi Ritschard. Bichsel war unter anderem seit 1985 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Er lebte in Bellach.
Persönliche Eindrücke vom Parteigenossen
Mit Livenet hat der Christ, Gewerkschafter und Alt-Nationalrat (SP) Philipp Hadorn einige Erinnerungen geteilt: «Als langjähriger Gefährte in Politik und Gewerkschaft kreuzten sich die Wege von Peter Bichsel und mir regelmässig. Auf meine Anfrage für ein Testimonial für meinen ersten Wahlkampf für den Nationalrat 2011 meinte er: ‘Ich habe dein Engagement in den letzten Jahren verfolgt.’ Als Slogan für meine Kampagne wünschte er ‘Ich wähle Philipp Hadorn, wie ich ihm vertraue’. Dieses Zeugnis über mich ehrte und freute mich. Und genau dies schien mir bei Peter Bichsel entscheidend: Er beobachtete, analysierte, diskutierte – und am Schluss, verbunden mit seinen Emotionen, sein Fazit: ‘Vertrauen oder Misstrauen’. Es war immer klar: Er misstraute den Mächtigen, den Konzernen, er vertraute der Einfachheit, der Bescheidenheit, dem Fassbarem. Mit seiner einfachen und klaren Sprache schaffte er es immer wieder neu, Nähe zu ermöglichen, gelegentlich beinahe zu erzwingen. Ein Mensch, der viele Seelen berührte.»
Ein Trotz-Stift und Mit-Schreiber
Max Frisch hatte den Weggefährten als Poet bezeichnet und war bis zu seinem Tod 1991 eng mit ihm befreundet. Auch mit Dorothee Sölle verstand sich Bichsel blendend. Obwohl er selber bei sich von einer Grund-Schwermut sprach, war er durchaus sehr humorvoll. Gerade diese Seite genoss er bei Sölle, sie blödelten oft zusammen. Eine Lieblingsaussage von ihr trug er besonders in seinem Herz: «Christsein bedeutet ein anderer werden.»
Der kritische Solothurner formulierte einmal: «Ein un-trotziger Mensch kann kein Schriftsteller sein», und ebenso «Es wäre auch ohne das Schreiben gegangen. Es hätte nicht sein müssen, ich hab es nicht mehr losgebracht.»
Von Menschennähe und dem Tisch-Text
Als Geschichtenerzähler brachte er das Menschsein näher und schaffte den Sprung in die Standard-Literatur der Schweizer Grundschule. Er machte Unscheinbares gross und mied das Mächtige. Nur einen einzigen Roman schrieb er.
Die Erzählung «Ein Tisch ist ein Tisch» erschien erstmals 1969 in dem Buch «Kindergeschichten» und wurde zum Literaturklassiker. Sie beginnt mit den Worten: «Ich will von einem alten Mann erzählen…» und gipfelt bei der Passage «…Dem Tisch sagt er Teppich, dem Stuhl sagt er Wecker, der Zeitung sagt er Bett…» Der Bestseller umfasst lediglich 157 Sätze.
Übereifrig und Glaube als Emanzipation
In der Radiosendung «Perspektiven: Peter Bichsel über Gott und die Welt» erzählte er via das Buch «Über Gott und die Welt» ausführlich über sein Glaubensleben. «Ich bleibe Mitglied, damit ich meine Kirchensteuern zahlen kann», sagte er beispielsweise.
Als Junger trieb er sich in pietistischen Kreisen rum, es sei eine Form der Selbstwertung, zur Emanzipation vom Elternhaus und ein Einüben von Minderheiten-Leben gewesen. Dafür bezahle er gern seine Steuern, meinte er und ergänzte: «Ich wurde ein übereifriger Sonntagsschüler… trat dem Hoffnungsbund des Blauen Kreuzes bei. Wir sangen Weihnachtslieder vor Restaurants.» Auch beim Bibellesebund war er und bezeichnete das Ganze als Unterkirchenkultur. Eine wunderbare Geschichtenerzählerin habe er in der Sonntagsschullehrerin gehabt. «Später hatte sich mein Glauben verwissenschaftlicht. Glauben gegen Interesse eingetauscht. Zehn Jahre hatte ich der Theologie gewidmet.»
Zu Hause: Buch der Bücher
Die Bibel war eines der Bücher, das er zu Hause lesen konnte. Aus «Über Gott und die Welt»: «…sie informiert sich nicht. Sie liest nur. Das LESEN an und für sich ist die heilige Handlung, das Lesen der Heiligen Schrift, der heiligen Buchstaben. Obwohl sie dies schon auswendig kennt, trotzdem liest sie, weil es nur um das Lesen geht, um das Lesen der Heiligen Schrift.» Dies ist eine beachtenswerte Passage von einem grossen Schriftsteller, dessen Liebe zum Schreiben und Lesen herzlich war.
«Der Herr ist mein Trotz»
Bichsel, der einige Predigten hielt, sagte auch: «Der Herr ist mein Trotz. Ich kann der einen Sache nicht lügen. Trotzdem, ich brauche ihn… Der Herr ist mein Trotzdem.»
Auf die Frage, ob er denn auch bete, meinte er: «…dann merke ich gar nicht, dass ich mit ihm spreche. Wieder klopft er mir auf die Schulter. Meistens ist er sehr unzufrieden mit mir, dann muss ich mit ihm streiten, mich verteidigen… Ich weiss, das ist kein richtiges Gebet… aber ja…»
«Es ist sehr schön, wenn man an die Menschen glauben kann. Und wer den Glauben an sie verliert, verliert auch seinen Gott.»
Sprengkraft des Christentums
Zur Kirche sagte er: «Ich halte die christliche Kirche immer noch für eine politische Kraft. Das geschieht ihr so recht. Sie ist die einzige Institution, die ihren Gründer nicht über Bord werfen kann. Jesus von Nazareth. Ich freu mich darüber, das ist die Sprengkraft. Blitzgescheiter Mann. Ein phänomenaler Mann. So phänomenal, dass man sagen möchte: Entweder muss er Gott sein oder eine Erfindung.»
Peter Bichsel war absolut überzeugt, dass eine religiöse Gruppe nur als Minderheit überleben könne: «Ich hasse alles Elitäre, das Christentum wird überleben. Wie kommen wir wieder zu Minderheiten? Nicht zu Mehrheiten!»
Schluss-Worte
Sinnigerweise formulierte der Philosophen-Poet einmal: «Das, was ich geschrieben habe, hat mein Leben nicht ausgemacht. Was ich gelesen habe, hat mein Leben ausgemacht.»
Lesetipp:
«Über Gott und die Welt» (Hrsg. Andreas Mauz) Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009
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